Schattengilde 03 - Unter dem Verrätermond
gerichtet. Erneut starrte Seregil die Haferkekse an, dann wieder den Rhui’auros, wobei er insgeheim hoffte, statt seiner noch einmal seinen alten Freund zu erblicken.
Elesarit schüttelte bekümmert den Kopf. »Selten haben wir mitansehen müssen, dass jemand so sehr wie du gegen seine Gaben ankämpft, Seregil í Korit.«
Enttäuschung und ein vages Schuldgefühl machten sich wie ein zu schweres Essen in Seregils Leib bemerkbar. Er vermisste Nysander schrecklich, vermisste die rasche Auffassungsgabe und den klaren Verstand des alten Zauberers. Er mochte manches für sich behalten haben, aber nie hatte er in Rätseln gesprochen.
»Es tut mir leid, Ehrwürdiger«, brachte er schließlich hervor. »Wenn ich über irgendwelche Gaben verfüge, so haben sie mir doch nie geholfen.«
»Natürlich tun sie das, kleiner Bruder. Illior hat sie dir geschenkt.«
»Dann sagt mir, welche Gaben es sind.«
»So viele Fragen! Du musst rasch beginnen, die richtigen zu stellen. Ein Lächeln kann Messer verbergen.«
Die richtigen Fragen? »Wer hat Torsin ermordet?«
»Das weißt du bereits.« Der alte Mann deutete auf die Tür. Nun lächelte er nicht mehr. »Geh jetzt. Du hast viel zu tun.«
Der Drache breitete seine Schwingen aus und entblößte seine nadelspitzen Zähne, während er ihn drohend anfauchte. Das beunruhigende Geräusch verfolgte Seregil, als er sich hastig auf den Korridor zurückzog. Nach einem kurzen Blick über seine Schulter erkannte er mit Schrecken, dass die Kreatur ihn tatsächlich verfolgte, und hinter der offen stehenden Tür erklang schallendes Gelächter.
Verfolgt von einem Drachen, und sei er noch so klein, drei Stockwerke hinabzuhetzen, war keine besonders angenehme Erfahrung. Auf dem zweiten Absatz angelangt, drehte sich Seregil um, um ihn zu verscheuchen, doch die Kreatur flog auf ihn zu und schnappte nach seiner ausgestreckten Hand.
Schließlich gestand er sich seine Unterlegenheit ein und flüchtete. Weiteres Gelächter, dieses Mal schaurig, geisterhaft, erklang ganz in der Nähe seines Ohres.
Irgendwo zwischen dem letzten Treppenabsatz und dem Meditationsraum gab sein unheimlicher Verfolger auf. Dennoch blickte er sich sogar dann noch über seine Schulter um, als er den Tempel verlassen hatte. Fingerlinge tollten ihm um die Füße, tschirpten und flatterten aufgeregt umher. Zwischen ihnen bahnte er sich vorsichtig einen Weg zu seinem Pferd, und erst, als er die Fesseln um die Vorderläufe des Tieres entfernen wollte, erkannte er, dass er noch immer die Phiole umklammerte.
Habe ich mir wirklich eingebildet, der Rhui’auros würde mir die Waffe des Mörders in die Hand drücken? dachte er voller Selbstironie, während er sie in seiner Tasche verstaute.
Cynrils ruhige Gangart besänftigte ihn ein wenig. Als sein Geist sich klärte, fing er langsam an, Elesarits Phantastereien zu zerpflücken, stets auf der Suche nach einer Botschaft, die sich hinter den Worten verbergen mochte. Im Herzen wusste Seregil, dass es ein Fehler war, die Worte eines Rhui’auros einfach als Unsinn abzutun; ihr Wahnsinn verschleierte das Antlitz Illiors.
»Illior!«, murmelte er, als ihm bewusst wurde, dass Elesarit den skalanischen Namen des Gottes benutzt hatte, statt ihn Aura zu nennen. Das war, als hätte er das lose Ende eines Gewebes entdeckt – nun schienen sich die einzelnen Knoten von selbst zu lösen, als er den Faden weiter verfolgte.
Der, der zwei Herzen besitzt, ist doppelt stark, Ya’shel Khi.
Ya’shel Khi. Seele eines Halbbluts. Die Worte erfüllten ihn mit einer sonderbaren Mischung aus Furcht und freudiger Erregung.
Als er ankam, befand sich das Gästehaus in heller Aufregung.
»Klia ist aufgewacht!«, erzählte ihm Feldwebel Mercalle auf dem Weg hinein. »Sie kann sich nicht bewegen und auch nicht sprechen, aber sie hat die Augen aufgeschlagen.«
Seregil wartete nicht auf weitere Einzelheiten, sondern sprang die Treppe hoch. Dort traf er auf Mydri, Thero und Nyal, die sich voller Sorge über das Bett der Prinzessin beugten.
»Aura sei Dank!«, rief Seregil und ergriff Klias Hand. Sie war bandagiert und roch nach Kräutern und Honig. Als sie ihn anblickte, konnte er in ihren wach blickenden Augen Schmerz lesen.
»Klia, hört Ihr mich? Blinzelt, wenn Ihr mich verstehen könnt.«
Langsam senkten und hoben sich Klias farblose Augenlider. Das Linke bewegte sich deutlicher als das Rechte, welches erschreckend schwach zu sein schien.
»Weiß sie alles, was passiert ist und was wir bisher
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