Schattengilde 03 - Unter dem Verrätermond
Pergamentrolle. »Soweit mir bekannt ist, wird Phoria ihr eine würdige Nachfolgerin sein.«
Der Gesandte klopfte mit einem ringgeschmückten Finger bedeutungsvoll auf das Pergament und lächelte wieder. »So mag man glauben, Khirnari, und doch gibt es Gerüchte, die auf einen Zwist zwischen ihr und der Königin hinweisen. Gerüchte, die meine Leute in Skala gerade jetzt an einige bestimmte auserwählte Ohren tragen. Aber selbst ohne diese Informationen gibt es einige Skalaner, die von der Aussicht auf eine unfruchtbare Königin nicht gerade begeistert sind. Immerhin gibt es genug rechtmäßige Erbinnen. Beispielsweise die zweite Tochter, Aralain, und deren Tochter. Und natürlich Klia.«
»Das sollte reichen«, bemerkte Ulan.
»In einer Zeit des Friedens, vielleicht, aber während eines Krieges? So viel Tod, so viel Ungewissheit. Hoffen wir für Skala, dass ihre vier Götter diese Frauen ganz besonders beschützen, was?«
»Ich bete, dass Aura über ihre Leben wachen wird«, konterte Ulan, während er sich abwandte, um seinen Abscheu zu verbergen; wie leicht sich diese Tír einem Meuchelmord zuwendeten. Die Kürze ihres Lebens schien eine grausame Ungeduld hervorzubringen, die für den Geist eines Aurënfaie abstoßend waren.
»Ich bin Euch wie stets dankbar für die Informationen und die Unterstützung«, fuhr er fort, während sein Blick wieder über den Hafen streifte. Seinen Hafen.
»Euer Vertrauen ehrt mich, Khirnari.«
Ulan hörte das Scharren der Stuhlbeine auf dem Boden und das Rascheln eines Mantels. Als er sich schließlich umblickte, war Ashnazai fort, doch die versiegelte Pergamentrolle lag noch immer auf dem Tisch.
Nicht gewillt, sich auf den Stuhl zu setzen, den zuvor der Plenimaraner eingenommen hatte, mühte sich Ulan unter Schmerzen auf die andere Seite des Tisches, setzte sich und streckte die geplagten Beine aus. Schließlich öffnete er die Rolle und zog ihren Inhalt hervor: drei Pergamente. Eines war eine beeidigte plenimaranische Erklärung irgendeiner Art, unterschrieben von jemandem namens Urvay. Die beiden anderen waren höfische Dokumente aus Skala, die offensichtlich mit dem Schatzamt zu tun hatten. Beide trugen das Siegel der Prinzessin Phoria und des jüngst verstorbenen skalanischen Kanzlers Barien. Eines trug überdies das Siegel der Königin selbst.
Ulan las sie alle sorgfältig zweimal durch. Als er fertig war, legte er die Papiere seufzend auf den Tisch und wünschte sich wie schon so oft, Skala oder Mycena lägen so nahe an ihrer Grenze, gleich jenseits der Meerenge von Bal, und nicht ausgerechnet Plenimar.
In dieser Nacht saß Ulan wieder auf dem Balkon, dieses Mal gemeinsam mit drei anderen Mitgliedern des Iia’sidra. Gerade hatten sie ihr Mahl beendet, das Geschirr war abgeräumt und der Wein eingeschenkt. Wie es Brauch war, saßen sie eine Weile schweigend beisammen und sahen zu, wie der Mond über das sternenfunkelnde Himmelszelt wanderte. Zwei von Ulans Gästen waren auf seine Einladung hin erschienen. Der Dritte hatte sie alle durch seine unerwartete Ankunft überrascht.
Eine aromatische Brise wehte die Zipfel ihrer Sen’gais gegen ihre Gesichter, lüftete Lhaär ä Iriels schütteres Silberhaar und offenbarte Spuren der Khatme-Clanzeichen auf der bleichen Haut ihres Nackens unter den schweren, juwelenbesetzten Ohrringen.
Ihre Ankunft an diesem Nachmittag war mit gemischten Gefühlen aufgenommen worden. Ihretwegen blieben die Schriftrollen Raghar Ashnazais wohl verwahrt in Ulans Arbeitszimmer. Die Tatsache, dass die Khirnari der Khatme eine so weite Reise auf sich genommen hatte, um ihn zu sprechen, mochte als ein Zeichen ihrer Unterstützung gedeutet werden, doch wer wollte schon von sich behaupten, irgendetwas von dem verstehen zu können, was jenseits der farbig geschminkten Augen und der kunstvollen Tätowierungen dieses fremden Clans vor sich ging?
Mit den anderen Gästen verhielt es sich anders. Elos í Orian, Khirnari der Goliníl, die nicht weit entfernt siedelten, war der Gatte von Ulans Tochter. Gefügig und durchsichtig wie Wasser, wusste Elos sehr gut, wie eng die Interessen der Goliníl mit denen der Virésse verknüpft waren.
Mit dem alten Galmyn í Nemius, der aus dem Osten von den Lhapnos gekommen war und die Nachricht der Unterstützung seines Clans und der Haman überbracht hatte, verhielt es sich wieder anders. Die Interessen jener beiden Clans waren weit komplexer und schwer durchschaubar, dennoch hatten sie sich beide gegen den
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