Schattengold
seiner kompliziertesten Fälle herauszufinden?
»Oh, Ihr Schnürsenkel ist offen!«, ermahnte ihn sein Nachbar. Kroll ärgerte sich, dass ihm diese Schlampigkeit entgangen war. Mit einer flinken Bewegung knüpfte er den Senkel wieder zusammen.
Der Mann zog eine an einer schweren Goldkette befestigte Taschenuhr aus seiner Hose und ließ den Deckel aufspringen. Kroll erkannte flüchtig ein eingraviertes Wappen, das er nicht näher deuten konnte.
Ein Palmwedel vielleicht.
»Oh, spät geworden. – Tja, die liebe Zeit! Finden Sie nicht auch, dass es uns eigentlich kaum gelingt, sich aus ihren Fängen zu befreien? Die meisten Menschen sind Sklaven ihrer Zeit. Und eine Uhr ist nichts als materialisierte Zeit.«
Kroll hatte darüber noch nicht nachgedacht, daher wagte er keine Widerrede.
»Ich glaube, die Götter haben die Zeit erschaffen als Raum für ihre Ewigkeit. Für die Sterblichen gilt das nicht. Ein Sprichwort aus meiner Heimat lautet: ›Das menschliche Leben ist nur Schatten und Nebel: Ein Nichts genügt, um es vergehen zu lassen.‹ Für die Menschen ist die Zeit nur ein Raum zwischen Schuld und Sühne.«
Kroll horchte auf. Was zum Teufel bezweckt dieser Fremde mit seinem seltsamen Gerede?, dachte er. Und wer ist er bloß?
Eine längere Pause trat ein, weil Kroll nachdenken musste. Der Fremde schien dies bemerkt zu haben. Er vermutete wohl, er hätte bei seinem wortkargen Gesprächspartner das Interesse an der Philosophie geweckt. Schließlich sagte er: »Na, dann will ich Sie nicht länger in Ihrer Meditation aufhalten, Sie hoffnungsloser, einsamer Mönch!« Er lachte kurz und flach auf, erhob sich und verschwand eilig, aber unauffällig.
Kroll sah ihm nach. Vielleicht hatte der Fremde ja recht. Vielleicht sollte er die Wahrheit jenseits der Tatsachen suchen. Vielleicht hatte man die sogenannten Tatsachen ja gerade für ihn so ausgebreitet, um ihn auf eine falsche Spur zu bringen. – Aber was soll es. Der Staatsanwalt wollte Tatsachen in Form knallharter Beweise. Bislang reichten die Indizien nicht aus, um den Uhrmachergesellen und seine mutmaßliche Komplizin zu verhaften.
Der Inspektor wollte sich gerade erheben, um zurück in sein Büro zu gehen. Da fiel ihm auf, dass der Fremde den Briefumschlag, der ihm vorhin aus dem Buch gefallen war, auf der Bank liegen gelassen hatte.
Das konnte kein Zufall sein. Neugierig öffnete er ihn. Eine Reisbroschüre über die Insel Madagaskar kam zum Vorschein.
Madagaskar! Das war der Schlüssel für all die geheimnisvollen Fälle, dessen war sich Kroll sicher.
Wie elektrisiert sprang er auf und wollte dem Fremden nachlaufen. Doch der war schon längst über alle Berge. Kroll steckte den Umschlag samt Prospekt vorsichtig in die Manteltasche.
Der Mann hatte Handschuhe an, erinnerte sich Kroll. Also sind bestimmt keine Fingerabdrücke auf dem Papier. Ich werde das trotzdem ins Labor bringen. Mag sein, dass sich irgendwo ein genetischer Abdruck finden lässt. Das könnte uns weiterhelfen. In Bezug auf die Reisebroschüre soll sich Hopfinger bei allen Reisebüros erkundigen. Es müsste doch aufgefallen sein, dass sich jemand für das exotische Land interessiert.
Die Laboruntersuchung erbrachte kein nennenswertes Ergebnis. Ebenso wenig die Recherchen in den Reisebüros. Das Herumstochern in der madagassischen Sprache erklärte zwar ein paar Begriffe, verwirrte Kroll jedoch, weil er nicht den Ansatz eines Zusammenhangs entdecken konnte.
Kapitel 24: Entscheidungen
Ein grauer, nebelverhangener Novemberabend schlich durch die Stadt. Herr Cortes, von Beruf Physiklehrer an der Oberschule, kam müde und abgeschlagen nach Hause.
Die heutige Sitzung der Kultursonderkommission zum Problem der Uhren, zu der man ihn als Fachmann eingeladen hatte, zehrte an seinen Kräften. Er fühlte sich ohnmächtig gegenüber einer konservativen Stadtpolitik, die Lübeck über kurz oder lang in die kulturelle Wüste treiben würde.
Aufmerksamen Bürgern war aufgefallen, dass die Astronomische Uhr in der Marienkirche in letzter Zeit verstärkt Unregelmäßigkeiten zeitigte, als seien sie Vorboten eines großen Erdbebens. Die weithin sichtbare Rathausuhr blieb sogar für Tage stehen, ehe ein Uhrmacher den Schaden herausfand und reparieren konnte.
Die Ratsherren und die überwiegende Mehrheit der Bürger fanden daran nichts Beunruhigendes.
»Keine Aufregung. Macht weiter wie bisher. Lasst alles beim Alten, es hat doch schon seit jeher so gut funktioniert.«
Der Ratsvorsteher
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