Schattengott
wandte er sich wieder
Johannes zu. «Da hast du ein sehr gefährliches Erlebnis gehabt. Und trotzdem
hast du sehr genau beobachtet, so wie ein guter Polizist das auch gemacht
hätte. Vielleicht gehst du ja einmal zur Polizei, wenn du erwachsen bist?
Solche gescheiten Jungen wie dich könnten wir hier schon gebrauchen.»
Johannes wirkte auf einmal mehr stolz als ängstlich.
«Du brauchst jetzt keine Angst mehr zu haben. Wir von der Polizei
werden uns um alles kümmern», fuhr Luginbühl fort. «Wenn wir diese Männer
finden, dann kommen sie ins Gefängnis. Dürfen wir in den nächsten Tagen zu dir
kommen und dir noch ein paar Fragen stellen, falls wir noch etwas von dir
wissen möchten?»
Johannes warf seiner Mutter einen Blick zu; als sie ihr
Einverständnis gab, nickte er.
Luginbühl begleitete die beiden hinaus, verabschiedete sich von
ihnen, dann begab er sich zurück in sein Büro. Nach einem Blick auf die Uhr
seufzte er und begann, seinen Schreibtisch aufzuräumen. Fast eine Stunde zu
spät würde er heute zum Nachtessen kommen. Auch wenn seine Frau ihm so etwas
nicht übel nahm, er musste für heute unbedingt Schluss machen.
Eigentlich hätte er am liebsten auf der Stelle den Postenchef über
diese Sache informiert, auch wenn er ihn damit nach seinem Feierabend stören
musste. Aber nach einigem Nachdenken musste er einsehen, dass das nicht klug
gewesen wäre. War Adolf Imobstgarten diesmal wirklich in einen Mord verwickelt,
oder fing er vielleicht nur wieder an, sich in etwas hineinzusteigern? Sah er
in dieser Geschichte Dinge, die in Wirklichkeit gar nicht vorhanden waren? In
den letzten Jahren war ihm das schon mehr als einmal passiert.
Er war lange in ärztlicher Behandlung gewesen, weil Imobstgarten für
ihn zeitweise zu einer Art fixer Idee geworden war. Luginbühl wollte die
letzten drei Wochen seines Arbeitslebens am Schreibtisch verbringen, nicht in
ärztlicher Behandlung, also durfte er jetzt keinesfalls überstürzt vorgehen. Am
besten, entschied er, gehe ich erst einmal selbst zur Weissenau und schaue mich
dort um. Gleich morgen, sobald es hell geworden ist. Erst wenn ich sicher bin,
dass es dort wirklich etwas zu untersuchen gibt, verständige ich den Chef.
Luginbühl verstaute das Bandgerät in der Schublade und schloss sie
ab, so wie er es immer tat, nachdem er es benutzt hatte. Das Protokoll konnte
warten, seine Frau nicht mehr.
Als Luginbühl mit seiner Frau am Esstisch sass, begann ihm auf
einmal wieder alles vor den Augen zu verschwimmen.
«Beni, was hast du?», fragte seine Frau besorgt.
Er antwortete noch: «Ich weiss auch nicht … Alles dreht sich …»,
dann fiel er vom Taburettli.
Knapp zehn Minuten später raste die Ambulanz mit Benjamin Luginbühl
in Richtung Bezirksspital; von dort wurde er mit dem Helikopter
weitertransportiert. Er hatte eine Hirnblutung erlitten, die man nur in der
«Insel», dem Berner Universitätsspital, stillen konnte.
Interlaken, April 1998
Bruno Tadic und Dölf Imobstgarten begegneten einander in einer
Disco in Interlaken. Es war purer Zufall: Dölf, eigentlich Adolf, Imobstgarten
hatte zuvor noch nie eine Disco besucht. Und er wäre auch diesmal nicht
hingegangen, hätte ihn nicht ein Arbeitskollege dazu überredet. Seine Eltern
hatten ihm immer erzählt, dass in Discos Drogen konsumiert würden und dort
Schwule verkehrten. Aber alle seine Arbeitskollegen waren schon einmal in einer
Disco gewesen, und Imobstgarten wollte nicht anders sein als die anderen. Also
ging er eben hin.
Die Musik dort gefiel ihm nicht. Die Mädchen dagegen schon. Man
konnte da einfach herumzucken, plötzlich stand man neben einem Mädchen, das
lachte einen an und kam so nahe, dass es einen berührte. Man wurde von ihm
berührt und musste es nicht selbst tun. Denn dazu hätte sich Imobstgarten
niemals durchringen können. Auch dazu hatten seine Eltern eine sehr bestimmte
Einstellung.
Imobstgartens Eltern waren gläubig und gehörten einer Freikirche an
– keiner Sekte im engeren Sinne, sondern einer Glaubensgemeinschaft, die auch
den Besuch der Landeskirche zuliess. Man war einfach noch eine Spur frömmer als
die gewöhnlichen Mitglieder der offiziellen evangelisch-reformierten Kirche. Zu
jeder Mahlzeit wurde ein Gebet gesprochen und mindestens einmal pro Woche in
der Bibel gelesen. Man war überzeugt davon, dass die Erde nicht älter als
sechstausend Jahre war und dass Gott sie in sechs Tagen erschaffen hatte.
Es gab viele Familien dieser Art auf dem Bödeli, wo man
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