Schattengott
Trotzdem hätte er vor Schreck beinahe
aufgeschrien, als ein Lichtkegel auf einmal ganz in seiner Nähe vorbeihuschte.
Dass eine der fünf Personen sich anders bewegte als die anderen,
hatte er bis dahin nicht wahrgenommen. Doch jetzt fiel der Lichtstrahl voll auf
diese Gestalt, und er sah einen Mann, dem die Hände auf dem Rücken
zusammengebunden waren. Die Kapuze war ihm übers Gesicht gezogen und ein Seil
um die Hüften geschlungen worden, an dem er vom Vorausgehenden den Weg
entlanggezerrt wurde. Derjenige, der hinter ihm ging, stiess ihm immer wieder
die Faust in den Rücken oder gab ihm einen Fusstritt. Das Ganze geschah
lautlos, und es war das Unheimlichste, was Johannes in seinem Leben je gesehen
hatte. Als die Gestalten in der Burg verschwanden, wäre er am liebsten
weggelaufen, aber er hatte zu grosse Angst, entdeckt zu werden.
Dann vernahm er leise Stimmen, die von der Plattform hoch oben auf
dem Turm zu kommen schienen.
«Ich kann nicht mehr … Hört bitte auf», glaubte er zu verstehen.
«Ich bin doch auf eurer Seite … Ich bin kein Verräter …»
Es folgte unverständliches Gemurmel. Dann liessen ein klatschendes
Geräusch und ein Schmerzensschrei ihn vor Schreck erstarren. «Hört auf!»,
flehte die Stimme immer wieder. Dann hörte er nur noch Gewimmer, und
schliesslich verstummte die Stimme ganz.
«Werft den Dreckskerl runter», sagte auf einmal eine Männerstimme so
laut und deutlich, dass er zusammenfuhr.
Einige Sekunden lang geschah nichts, dann gab es kaum mehr als einen
Meter von seiner Nische entfernt einen dumpfen Aufprall auf dem grasbewachsenen
Boden. In kurzen Abständen fielen weitere schwere Gegenstände herunter,
Brecheisen, nahm er an, als einer davon ein paar Meter neben seinem Kopf
scheppernd an die Mauer schlug. Der Scheinwerfer einer starken Spotlampe strich
über den Boden, blieb an dem ersten heruntergeworfenen Gegenstand hängen,
tastete seine Konturen von unten bis oben ab – und Johannes blickte plötzlich
in das Gesicht eines Toten. Grosse, leere Augen starrten in den finsteren
Himmel. Diesmal war er nicht imstande, einen Entsetzensschrei zu unterdrücken.
«Verdammt, da unten ist jemand!», hörte er von oben, und einen
Moment lang fühlte er sich wie gelähmt. Gleich würden die Mörder kommen und
auch ihn umbringen! Erst als er Schritte auf der Wendeltreppe im Turminneren
hörte, löste sich seine Erstarrung. Johannes sprang auf und begann zu laufen,
wie er noch nie in seinem Leben gelaufen war. Keuchend blickte er sich um, als
er die Strasse erreicht hatte, und sah das Licht der Taschenlampen, mit denen
sie die Gegend nach ihm absuchten.
«Dort drüben ist er!», hörte er eine Stimme.
Johannes rannte weiter, doch dann musste er einsehen, dass er keine Chance
hatte, seinen Verfolgern auf der Strasse zu entkommen. Mit dem Auto würden sie
ihn in null Komma nichts eingeholt haben. Wenn überhaupt, dann war er im
Unterholz des angrenzenden Walds vor ihnen sicher. Dort konnten ihn die
Lichtstrahlen und ganz besonders das Auto nicht erreichen. Er war nicht weit
von der Pforte des Naturreservates entfernt, und dort kannte er sich gut aus.
Man musste sich in Acht nehmen wegen der Sümpfe, aber das schien ihm eher ein
Vorteil zu sein, denn er wusste sicherlich besser als seine Verfolger, an
welchen Stellen man besonders aufpassen musste.
Wie gerne hätte Johannes seine Taschenlampe angeschaltet, doch damit
hätte er seinen Vorteil gegenüber den Verfolgern verschenkt. So erwies sich in
der Dunkelheit auch für ihn jeder Schritt als tückisch. Stolpernd und zerkratzt
schlug er sich durchs Unterholz, bis er am Rande des kleinen schilfumstandenen
Weihers auf der nördlichen Seite angekommen war. Dort versteckte er sich,
keuchend vor Anstrengung, hinter einem grossen Baumstrunk und spähte nach
seinen Verfolgern aus.
Sie waren an der Weggabelung vor dem Eingang zum Reservat
unschlüssig stehen geblieben und beratschlagten sich im Flüsterton.
Schliesslich entfernte sich einer Richtung Golfplatz, zwei weitere suchten das
Waldstück zum Schiffskanal hin ab. Der Vierte betrat den Pfad zum Naturpark,
leuchtete mit seiner starken Lampe in die Sümpfe links und rechts des Weges.
Auf einmal traf Johannes der Lichtkegel. In panischer Angst sprang
er auf und rannte los. Der Mann setzte ihm nach, doch dann verhedderte er sich
offenbar im am Boden liegenden Geäst oder sank in den sumpfigen Boden ein, denn
er folgte Johannes nicht sofort weiter.
«Kommt hierher!», hörte
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