Schattengott
Johannes ihn rufen, während er um sein Leben
lief und das alptraumhafte Gefühl hatte, viel zu langsam vorwärtszukommen.
Immer wieder musste er den Sümpfen ausweichen. Die Männer aber, die ihn jetzt
gemeinsam verfolgten, waren noch langsamer. Unablässig versuchten sie, zum
Schilf vorzudringen, doch sie mussten sich stets nach wenigen Schritten wieder
auf festen Boden zurückziehen. Von Zeit zu Zeit traf ihn der Lichtkegel der
Handlampen durch das im Winter stark gelichtete Unterholz und Schilf, deshalb
gelang es ihm nicht, seine Verfolger abzuschütteln. Dafür war er jetzt schon
ganz in der Nähe des Gasthauses «Neuhaus» angelangt, dessen Fenster hell
erleuchtet waren.
Plötzlich war von der Strasse her ein Motorengeräusch zu hören.
«Bert, setz du dem Kerl allein weiter nach!», hörte Johannes. «Wir müssen
sofort zum Auto zurück.»
Er schöpfte neue Hoffnung. Jetzt nur noch das Strandhotel «Neuhaus»
erreichen. Noch hundert Meter über das offene Feld, und er war in Sicherheit!
Als er aber zum Spurt ansetzte, fand er sich auf einmal im Strahl der Leuchte
seines Verfolgers wieder. Im grellen Lichtschein stolperte er, fiel hin und
rappelte sich wieder auf. Der Abstand zwischen Jäger und Gejagtem war nun auf
wenige Meter zusammengeschmolzen.
Als Johannes sich dem Haus näherte, begann er laut um Hilfe zu
rufen, um jemanden auf sich aufmerksam zu machen. Aber im Haus rührte sich
nichts. Hätte er doch alle seine Kraft lieber eingesetzt, um seinen Vorsprung
vor seinem Verfolger nicht kleiner werden zu lassen! Denn als er die seeseitige
Hausecke gerade erreicht hatte, spürte er, wie eine Hand seinen Ärmel packte.
Johannes schrie vor Angst wie am Spiess.
Und da ging – endlich – doch noch die Tür auf, ein heller
Lichtschein drang heraus, und Johannes sah eine Serviererin am Eingang zum
erleuchteten Speisesaal stehen. Hinter sich hörte er einen Fluch, der Ärmel
wurde losgelassen, und sein Verfolger suchte das Weite.
* * *
Es hatte geraume Zeit gedauert, bis es der Kellnerin gelungen
war, dem zitternden und schluchzenden Jungen seinen Namen und seine
Telefonnummer zu entlocken und seine Mutter zu verständigen.
«Ich bin dann gleich mit dem nächsten Bus hingefahren», erklärte Eva
Bellwald. «Ich hatte mir schon grosse Sorgen gemacht, weil der Junge nicht
daheim war. Sonst ist er immer so zuverlässig, deshalb wusste ich gleich, dass
etwas passiert war.» Tränen traten ihr in die Augen. «Sie können sich gar nicht
vorstellen, wie bittere Vorwürfe ich mir mache, dass ich meinen Jungen so oft
sich selbst überlassen muss! Aber ich kann mir meine Arbeitszeiten nun mal
nicht aussuchen.»
Luginbühl überlegte kurz, ob sich der Junge die Sache vielleicht
doch nur ausgedacht hatte. Kinder taten die merkwürdigsten Dinge, um mehr
Aufmerksamkeit zu erregen. Das nicht selten auf Kosten der Wahrheit. Aber sein
kriminalistischer Instinkt sagte ihm deutlich, dass etwas an der Sache dran
war. Und so oder so: Ein Team musste in jedem Fall zur Burgruine geschickt
werden, um zu überprüfen, ob es dort Spuren gab. Wenn dem so war, stellte sich
die Frage, ob dort wirklich jemand ums Leben gekommen war oder ob sich
vielleicht nur irgendwelche Jugendlichen einen makabren Scherz erlaubt hatten.
Es gab unter Interlakens jungen Leuten aber schon den einen oder
anderen, dem Luginbühl einen Mord zugetraut hätte.
«Erkannt hast du aber niemanden, den du anderswo schon einmal
gesehen hast, Johannes?», vergewisserte er sich, und als der Junge den Kopf
schüttelte, fragte er weiter: «Kannst du die Männer denn beschreiben? – Es
waren doch Männer? Oder kann auch eine Frau dabei gewesen sein?»
Johannes schüttelte wieder den Kopf. Nein, es seien alles Männer
gewesen. Aber es sei viel zu dunkel gewesen, um sie genau zu erkennen.
«Waren sie alle gleich gross?», fragte Luginbühl weiter.
«Nein, einer war ein ganzes Stück grösser als die anderen …»
Johannes zögerte kurz, dann fügte er hinzu: «Ich bin mir nicht ganz sicher,
aber ich glaube, er hatte eine Glatze.»
Luginbühl hatte plötzlich das Gefühl, nicht mehr richtig Luft zu
bekommen. Vor seinen Augen verschwamm es.
«Ist alles in Ordnung mit Ihnen?», hörte er Eva Bellwalds Stimme wie
aus weiter Ferne. Das half ihm, sich zusammenzureissen. Tief einatmen!, wies er
sich selbst an. Und dann ausatmen. Langsam wurde sein Blick wieder klar, und er
lächelte, wenn auch noch etwas gequält.
«Keine Sorge, mir geht’s gut», sagte er, dann
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