Schattengott
von Haus aus
sehr konservativ war. Man schätzte Veränderungen nicht, war Neuerungen
gegenüber misstrauisch, und zugezogene Nachbarn galten noch nach zwanzig oder
dreissig Jahren als «fremde Fötzel».
Die Imobstgartens waren nicht arm, aber auch nicht reich. Der Vater,
Abraham Imobstgarten, arbeitete auf dem Flugplatz, wo er für die Ordnung auf
den Liegenschaften zuständig war. Der Flugplatz gehörte dem Militär, also der
Eidgenossenschaft. Imobstgarten senior hatte damit eine sichere Stelle.
Sicherheit und Ordnung, das stand in der Familie Imobstgarten nach
dem Glauben gleich an zweiter Stelle. Politik war kein grosses Thema. Man
setzte sich für den Erhalt der Schweizer Armee ein und kämpfte gegen fremde
Einflüsse, die als verderblich angesehen wurden. Abraham Imobstgarten wählte
die Partei der Eidgenössischen Christen. Nur er. Die Mutter, Sarah, nicht.
Politik blieb bei den Imobstgartens Männersache. Auch das war auf dem Bödeli
nicht unüblich.
An diesem Abend in der Disco hatte Dölf Imobstgarten ein Mädchen
besonders im Auge und arbeitete sich ungelenk in ihre Nähe. Tanzen war für ihn
völlig ungewohnt, und irgendwie schaffte er es nicht, seine Bewegungen auf den
Takt der Musik abzustimmen – er schaffte es so wenig, dass es nicht nur
anderen, sondern auch ihm selbst auffiel. Aber er war gross und stattlich, das
machte wohl einiges wieder gut, denn das Mädchen rief ihm etwas zu und lachte
freundlich. Erst verstand er nichts, weil es so laut war, dann zog sie ihn zu
sich heran und rief es ihm noch einmal laut ins Ohr:
«Wenn du mir an der Bar etwas zu trinken spendierst, erkläre ich
dir, wie du tanzen musst!»
Imobstgarten folgte ihr und rückte den Barhocker so zurecht, dass er
möglichst nahe bei ihr sitzen konnte. Sonst höre ich ja nichts bei der lauten
Musik, dachte er. Die Musik war aber so laut, dass er trotzdem wenig von dem
verstand, was das Mädchen zu ihm sagte. Als sie wieder auf den Tanzboden
gingen, tanzte Imobstgarten nicht besser als vorher. Das hätte er durchaus
verkraftet, denn das Mädchen schien es nicht zu stören. Doch plötzlich tauchte
ein anderer Junge auf, und der war nicht nur einige Zentimeter grösser als er,
sondern er tanzte auch viel besser. Das gefiel dem Mädchen. Sie liess sich von
dem anderen umarmen und hatte plötzlich kein Interesse mehr an ihm.
Imobstgarten fühlte sich wie jemand, den man um seinen Besitz
gebracht hatte.
«Du frecher Siech, was bildest du dir eigentlich ein?», schrie er
und riss seinen Rivalen am Ärmel.
Der lächelte nur überlegen und wandte sich ab. Das brachte
Imobstgarten noch mehr in Rage. Doch als er den Fremden erneut zu sich
herumreissen wollte, um ihm noch deutlicher die Meinung zu sagen, waren schon
zwei Saalordner zur Stelle und fassten ihn unsanft an den Armen. «So, jetzt
raus, aber subito. Wir wollen keine Schlägerei hier drinnen.» Sekunden später
lag er auf dem Trottoir vor der Disco.
Am folgenden Tag erkundigte sich Imobstgarten bei seinen Kollegen
nach dem Namen desjenigen, der ihm in der Disco sein Mädchen
ausgespannt hatte.
«Tadic, Tadic Bruno heisst der Typ. Ein Scheiss-Jugo. Er geht ins
Gymnasium», bekam er zur Antwort. Die Wut, die Imobstgarten ohnehin schon
verspürt hatte, wurde noch gesteigert. Leute mit der Namensendung ‹ic›,
das war ihm daheim vermittelt worden, waren minderwertige Menschen, die nur für
niedrigere Beschäftigungen taugten und den Einheimischen zuzudienen hatten. So
einer hatte nicht nur die Finger von den hiesigen Mädchen zu lassen. Auch auf
dem Gymnasium hatte er nichts zu suchen.
Beim Mittagessen im Familienkreis schnitt er das Thema an –
allerdings sagte er nichts davon, dass er am Vortag in einer Disco gewesen war,
und auch das Mädchen erwähnte er nicht. Ein Jugo habe ihn auf der Strasse
angerempelt, behauptete er.
Der Vater reagierte empört. «Ich hoffe, du hast dir das nicht bieten
lassen. Der liebe Gott hat dir nicht umsonst eine so beachtliche Körpergrösse
und kräftige Muskeln geschenkt.»
Die Mutter hatte dagegen Bedenken und zitierte den Bibelspruch:
«‹Wenn dich einer auf die linke Backe schlägt, dann halt ihm auch die andere
hin›, hat Jesus gesagt.»
«Das verstehst du nicht, Frau», widersprach der Vater. «Mit solchen
Worten leitest du nur Wasser auf die Mühlen der Pazifisten und Kommunisten. Was
wir zurzeit hier erleben, ist eine Art Krieg. Diese fremden Strolche machen
unser Land kaputt. Wir haben die göttliche Pflicht, uns dagegen zu
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