Schattengott
charmanten Blick zuzuwerfen.
Warum war sie so? Warum musste sie Männern immer erst mal eine vor
den Latz knallen? Der wichtigste Mann in ihrem Leben war immer ihr Vater
gewesen. Sie war ein Papakind. Aber konnte sein Heiligenschein fünfzehn Jahre
nach seinem Tod nicht langsam mal verblassen? Musste sie an jeden Mann diese
unendlich hohen Ansprüche stellen? Sie war eine richtige Freibeuterin geworden.
Wenn sie Lust auf Sex hatte, angelte sie sich jemanden. Wehe aber, der Mann
wagte sich näher an sie heran oder wollte sich gar verlieben. Sofort war sie
weg. Sie hatte in diesen Dingen eine Störung. Es war ihr noch nie so klar
geworden. Aber es war so. Angesichts dieser Erkenntnis brauchte sie eine
Zigarette. Sofort.
Auf der Heimfahrt hörte sie sich in bolivianische Volksmusik ein und
rauchte gleich zwei Zigaretten.
«Scheisse», sagte sie laut und warf die glühende Kippe aus dem
Fenster. «Ich darf den Dreck nicht wieder anfangen.»
Sie hielt am Rasthof Viamala und holte sich einen Kaffee. Dann fuhr
sie auf den Heinzenberg und setzte sich unter dem Sternenhimmel an den
Pascuminer See. Sie atmete die klare Luft und beschloss, sich beim nächsten Mal
für den Mann aus dem Yoga zu öffnen.
5
Direkt nach dem Sonntagsmeeting, das jetzt jedes Wochenende
stattfand, nahm Sabina einen der Škodas und verabschiedete sich für den
restlichen Tag.
«Viel Glück», sagte Heini, als er sie noch einmal auf dem Gang traf.
«Bin gespannt, was Schlorfs Tante so erzählt.»
Sabina achtete seit dem Strafzettel, der ihr wegen der Dringlichkeit
der Ermittlungen natürlich erlassen worden war, etwas genauer auf ihr Tempo.
Mit exakten hundertzwanzig Stundenkilometern fuhr sie das Rheintal entlang,
vorbei an Liechtenstein, in Richtung Deutschland. Ihr Navi lotste sie über
Romanshorn und Konstanz. Direkt am Bodensee legte sie eine Pause ein und trank
einen Kaffee.
Nach gut dreieinhalb Stunden Fahrtzeit erreichte sie die Ortschaft
Sommerau bei St. Georgen und klingelte am Haus der Familie Schlorf. Es war
ein etwas abseits gelegenes altes, unscheinbares Bauernhaus. Auf dem Hof
standen ein älterer Fiat, ein Fahrrad und ein Schubkarren.
Eine Frau Anfang siebzig mit rot gefärbten Haaren öffnete die Tür,
begrüsste Sabina freundlich und bat sie herein. Auf einem abgewetzten Esstisch
standen schon zwei Kaffeetassen und eine Kuchenplatte.
«Sie sollen die Fahrt ja nicht umsonst gemacht haben», sagte die
Tante und goss Sabina einen Kaffee ein. «Milch, Zucker?»
«Danke», sagte Sabina und rührte die Kondensmilch in ihrer Tasse um.
Nach ein paar Höflichkeitsfloskeln lenkte sie das Gespräch auf Christian
Schlorf. Sie wollte möglichst viel über ihn erfahren: Wie es dazu gekommen war,
dass er bei der Tante wohnte, was er tat, was er dachte, auch Begebenheiten aus
seiner Kindheit. Die Tante erzählte bereitwillig, liess aber nie einen Zweifel
daran, dass sie die Verdächtigungen gegen ihren Ziehsohn für absurd hielt.
Sabina war erstaunt, dass sie nie unwirsch reagierte. Sie schien sich ihrer
Sache so sicher zu sein, dass sie völlig ruhig blieb.
«Der Christian war schon immer ein Kind mit besonderen Begabungen.
Ein bisschen mehr im Himmel als auf der Erde. Aber ein guter Bub. Wenn man ihn
machen lässt und ihm nicht dreinredet, dann wird bei ihm immer alles gut. Er
hat schwer unter dem Tod seiner Eltern gelitten. Da war er gerade acht. Er kam
dann auf ein Internat, aber das hat nicht geklappt. Und dann habe ich ihn und
seinen Bruder zu mir geholt. Mein Mann war gestorben, die Töchter alle aus dem
Haus. Da hab ich halt so gut es ging die Mutterrolle übernommen.»
«Sagen Sie, war der Christian je gewalttätig?»
«Um Gottes willen, nein. Keiner Fliege tut der was zuleide.»
«Und in die Kirche? Ist er da gerne hin? Hat er da mal was erzählt?»
«In die Kirche ist der nach dem Tod der Eltern nicht mehr. Da hat er
nicht mehr an den lieben Gott geglaubt. Aber in den Wald ist er oft. Immer in
den Wald. Der Wald, das ist seine Heimat. Für die Seele.»
Die Tante erzählte, dass Schlorf schon mit zwölf Jahren einmal in
den Ferien für ein paar Tage im Wald verschwunden sei. Er habe sich ein
Baumhaus gebaut und sich von Früchten und Eicheln ernährt. Nach drei Tagen sei
er dann quietschvergnügt zurückgekommen und sich keiner Schuld bewusst gewesen.
Sie hätte Todesängste ausgestanden, doch das sei ihm gar nicht bewusst gewesen.
Ja, so sei er eben: sehr selbstbestimmt und der Natur äusserst verbunden.
«Wo hat er denn
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