Schattengott
Rauch brannte in
den Augen. Sanderson drehte das Tier behutsam um die eigene Achse und
erläuterte die Fotos an der Wand. Er vertrat die These, dass sich die Menschen
bei ihren Felszeichnungen alle aus einem einzigen archaischen Schatz bedient
hatten – ganz gleich ob im Westen, Osten, Süden oder Norden – und
dass heutige Menschen tief in ihrem Inneren immer noch aus genau demselben
Schatz schöpften. Mit seinem wallenden Haar und dem krautartigen Bart war
Sanderson selbst ein lebendiger Ausdruck dieser archaischen Natur.
Der Koch war ohne Unterlass damit beschäftigt, das Buffet
aufzufüllen, und scheuchte die Putzfrau mit leeren Tellern in die Küche.
Die Bibliothek im Schloss war bestuhlt. Wo sonst der grosse Tisch
und die Schreibtische standen, war eine Art Podium mit Leinwand und
Lautsprechern aufgebaut. Hier hielt Redolfi seinen Vortrag über heilende Musik.
Er spielte Stücke von Mozart und Hindemith, balinesische Gamelanmusik und
nordische Volkslieder vor. Sabina stand an der Tür und beobachtete die Zuhörer.
Redolfi zeigte anhand von Hirnströmen die neurophysiologische Wirkung der
jeweiligen Musik. Ausgehend von diesen Beispielen führte er heilsame und
weniger heilsame Klänge und Melodien vor. Die Zuhörer spendeten ihm am Ende
enthusiastischen Beifall. Er bedankte sich und ging direkt auf Sabina zu.
«Haben Sie auch zugehört?», fragte er.
«Sehr beeindruckend, Herr Redolfi. Die Suche nach dem heilenden
Klang. Das fasziniert mich.»
Dass Musik heilen konnte, war für sie völlig klar. Dass man sie
medizinisch so wenig nutzte, eigentlich verwunderlich.
«Wie lange forschen Sie schon über das Thema?»
«Bereits mehr als zwanzig Jahre.»
«Und wie sind Sie auf Schloss Mondfels gekommen?»
«Ein Freund hat mir davon erzählt. Aber ich werde bald wieder
abreisen.»
«Warum?»
«Meine Mission ist demnächst beendet», sagte er und fixierte sie mit
seinen dunklen, fast schwarzen Augen. Sabina hielt seinem Blick stand.
«Lassen Sie uns ans Feuer gehen», schlug er schliesslich vor. «Ich
möchte wissen, was Sie antreibt in Ihrem Leben.»
Es sprach nichts dagegen, das Gespräch mit Redolfi zu intensivieren.
Sollte er in dieser Nacht irgendetwas vorhaben, würde sie es auf diese Weise am
ehesten mitbekommen. Sie setzten sich ans Feuer und assen ein Stück von dem
saftigen Ochsenbraten. Die anderen Zivilermittler behielten Sanderson, den Koch
und die Isländerin im Auge.
Sabina lächelte Redolfi zu. Nichts sollte verraten, dass sie ihn
observierte. Die zivilen Polizeiwagen rund um Schloss Mondfels wa-ren gut
getarnt. An Rosenackers Defender war ein Peilsender angebracht.
Die Dämmerung setzte ein.
«Sechs nach halb zehn», sagte Malfazi, als der mobile
Einsatzleiter ihn nach der Uhrzeit fragte. Sie sassen im Einsatzwagen an der
Rheintalautobahn und kontrollierten die Bildschirme. Insgesamt hatten sie über
hundert Ziele im Auge. Die Monitore waren so geschaltet, dass sie alle fünf
Sekunden ein neues Bild zeigten. Einen derartigen technischen
Überwachungsaufwand hatte es bei keinem Einsatz in Graubünden jemals gegeben.
Die Order war von ganz oben gekommen. In dieser Nacht durfte kein Fehler
gemacht werden.
Um einundzwanzig Uhr sechsundfünfzig meldete das Einsatzteam an den
Felsen oberhalb von Savognin, dass sich sechs Personen näherten. Malfazi liess
den Ausschnitt im Bildschirm vergrössern. Es handelte sich um eine Gruppe von
Jugendlichen. Sie packten Flaschen aus und machten ein Feuer.
«Kein Zugriff», befahl er. «Lasst sie feiern, aber behaltet das
Ganze sehr genau im Auge.»
An sämtlichen Kirchen im Umkreis waren Polizisten und
Nachtsichtkameras postiert. Doch es blieb ruhig. Auch auf Carschenna tat sich
nichts. Als es komplett dunkel war, begann die heisse Phase. Malfazi wurde
angespannter. In den nächsten Stunden war die Wahrscheinlichkeit für eine
Entführung und den finalen Mord am höchsten. Hatte er die richtigen Ziele ausgewählt?
Würden die Täter noch einmal einen alten Kultplatz oder eine der Kirchen im
Umfeld der Viamala für ihr Ritual auswählen? Der heutige Einsatz musste
erfolgreich sein, wenn er in seinem Polizistenleben noch etwas erreichen
wollte.
Redolfi und Sabina unterhielten sich am Feuer. Der vordergründig
so zurückhaltende, stille Franzose entwickelte Charme. Er fragte sie nach der
Zusammenarbeit mit den männlichen Kollegen, liess beiläufig ein Kompliment
fallen, fragte auch nach dem Stand der Ermittlungen in den Mordfällen.
Sabina tat sich
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