SchattenGrab
also. Denk einfach mal über meine Fragen nach, ganz in Ruhe. Etwas anderes beschäftigt mich noch. Dein Vater hat Tagebuch geführt. Es fehlen aber etwas mehr als sechs Jahre. Weißt du, wo die fehlenden Bücher sein könnten?“
„Nein, wirklich nicht. Stand denn da auch was über die letzten Wochen?“
„Das sichte ich gerade“, erklärte Thorsten, „aber hab bitte Verständnis dafür, dass ich dir dazu ohnehin nichts sagen kann.“
„Ich verstehe“, sagte Justus und verstand überhaupt nichts mehr. „Bitte lass mich jetzt nachdenken. Wir hören uns.“
„In Ordnung“, antwortete Thorsten und legte auf.
Er kam sich schlecht vor und überlegte, den Fall abzugeben. Dann aber schimpfte er mit sich selbst, weil er den einfacheren Weg gehen wollte.
Also vertiefte er sich wieder in das Tagebuch und las, dass Dr. Friedhelm Görlitz sehr darunter gelitten hatte, dass Sophie spurlos verschwunden war. Das zeigte sich in jeder der täglichen Eintragungen. Auch hatte er viel Mitgefühl mit Verena gehabt. Er beschrieb die Verschlechterung ihres Zustandes, machte dafür die Psychopharmaka verantwortlich und musste doch tatenlos zusehen, wie sie mehr und mehr in ein Trauma verfiel.
Seinem Sohn sprach er wenig Trost zu, erwähnte ihn nur am Rande und fand ihn untätig und hilflos in der Beziehung zu Verena. Marianne schien für ihn überhaupt kein Thema zu sein, als ob sie für ihn gar nicht existierte.
Dann auf einer der letzten Seiten las Thorsten von Friedhelms Vermutung. Eine Idee, die ihn beschäftigt hatte und der er nachgehen wollte. Sie schien ihm selbst zu abwegig zu sein und doch war sie ihm immer wieder in den Sinn gekommen.
Das warf nun wieder ein anderes Bild auf Sophies Großvater, fand Thorsten, oder es waren geschickt formulierte Einträge, die den Leser in eine falsche Richtung führen sollten.
In diese Grübeleien klingelte sein Telefon und zeigte Wolfs Nummer an.
Verena
Mit gemischten Gefühlen fuhr Verena nach Bückeburg. Sie liebte ihre Schwester, obwohl sie beide so grundverschieden waren. Es war ihr jetzt als einziger Zufiuchtsort erschienen, um für einige Zeit aus dem Alltag abzutauchen und etwas abgelenkt zu werden. In ihrem Leben lief alles schief, seitdem sie sich entschlossen hatte, Mutter werden zu wollen, dachte sie bei sich. Dabeiwar das doch ein ganz normaler Wunsch für eine Frau. Warum war es bei ihr so kompliziert gewesen? Dann der Lichtblick, als es endlich geklappt hatte. Das war ein Aufatmen gewesen, so als erlebe sie ein Wunder. Und das war es ja auch, wenn ein Kind im eigenen Leib heranwuchs. Wer das niemals erlebt hatte, konnte dieses Gefühl nicht begreifen. Diese ersten zarten Empfindungen, wenn sich das Kind plötzlich in einem bewegte. Die Zwiesprache, die sie mit Sophie gehalten hatte, das Streicheln des Babys durch die Bauchhaut. Sie erinnerte sich noch gut, wie sie darauf geachtet hatte, ruhige Musik zu hören, meist klassische, damit das Kind schon im Mutterleib Geborgenheit und Ruhe erfuhr. Auch auf die Ernährung hatte sie noch mehr geachtet als sonst und nur vollwertige, biologische Nahrung zu sich genommen. Alles schien perfekt, selbst die Geburt ließ sich gut ertragen. Dass das Baby komisch schrie, hatte sie anfangs nicht verwundert. Sie hatte keine Erfahrung mit Neugeborenen. Es war ihr Schwiegervater gewesen, der zuerst sorgenvoll einige Bemerkungen gemacht hatte und dann später seinen Sohn, der ebenfalls Arzt war, ins Vertrauen gezogen hatte. Ohne Verenas Wissen war damals ein genetischer Test veranlasst worden. Nachdem das Ergebnis vorlag, hatte er nicht gewusst, wie er es ihr erklären sollte. Das langersehnte Kind war behindert.
Bis heute konnte sie Justus nicht verzeihen, dass er es ihr nicht sofort gesagt hatte. Sie war in dem Glauben geblieben, ein normales Kind zu haben. Erst als sich die verzögerte Entwicklung nicht mehr erklären ließ, hatte er ihr die Wahrheit gesagt. Danach war nichts mehr wie zuvor gewesen. Sie hatte sich zurückgezogen, auch von Justus, um dem benachteiligten Wesen, für dessen Entstehung sie das Menschenmögliche getan hatte, all ihre Liebe zu schenken.
Die mitleidigen Blicke der Familienangehörigen waren schwer zu ertragen gewesen. Niemand verstand augenscheinlich, dass sie selbst Sophies Behinderung einfach als eine Variante des Lebens empfand.
Bisher hatte sie zu wenig Kraft gehabt, um wirklich um Friedhelm trauern zu können. Der Wahnsinn war in einer Welle über ihr zusammengeschlagen. Kind weg, Ehe kaputt,
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