SchattenGrab
Seitdem sich herausgestellt hatte, dass er eher väterliche als pädophile Gefühle für seine benachteiligte Tochter gehegt hatte, war auch nicht mehr davon auszugehen, dass er das Kind irgendwo versteckt gehalten hatte, wo es auf seine Versorgung angewiesen war. Das hätte keinen Sinn gemacht.
Das Tagebuch sprach dieselbe Sprache. Es war voll von der Sorge um Sophie. Friedhelm hatte sich weitreichende Gedanken gemacht, Schreckensszenarien durchlitten, und seine Einträge endeten stets mit einer Art Stoßgebet, dass seine Tochter doch gesund wieder nach Hause kommen möge.
Fast jeden seiner Familienmitglieder und Freunde hatte er als möglichen Täter ins Auge gefasst und sein Verhalten beobachtet. Er beschrieb, dass er eine Ahnung in sich trug, die jedoch nicht greifbar war, weil ihm nicht mehr einfiel, was ihn irritiert hatte.
Durch die Zeilen spürte Marga auch, dass er doch mehr für Verena empfunden haben musste, als ihr selbst klar gewesen war. Seine Beschreibungen waren liebevoll. Er reflektierte die Zeit, in der sie seine Geliebte gewesen war. So beschrieb er es wenigstens und dass er damals traurig gewesen sei, als sie sich ihm zu Beginn der Schwangerschaft entzogen hatte. Doch selbst dafür brachte er ihr Verständnis entgegen. Verena war auch die Einzige, die er niemals ursächlich mit Sophies Verschwinden in Verbindung brachte.
Seine eigene Frau Marianne musste ihm trotz ihrer wunderlichen Art eine freundliche Lebensgefährtin gewesen sein. Er beschrieb sie als einen treuen Partner, dem das Dasein zu übel mitgespielt hatte und begründete ihren geistigen Zustand damit auf seine Weise, für den er Verständnis aufbrachte. Er ließ sie einfach gewähren und in ihrer Engelwelt mitsamt den schrillen Bildern so glücklich sein, wie sie konnte.
An seinem Sohn ließ er jedoch kein gutes Haar. Einen aufgeblasenen, arroganten Kerl nannte er ihn, der im Grunde ein verweichlichter Sohn aus vornehmem Hause war. Er hatte ihm helfen wollen, dass Justus und Verena eine Familie werden konnten, nachdem sein Sohn sich bei ihm ausgeweint hatte, weil er seine Ehe in Gefahr sah. Seinen Samen hatte er zur Verfügung gestellt, ohne Justus die Männlichkeit zu nehmen. Heimlich und diskret.
Er blieb unwissend. Es tat ihm leid, dass er dabei mehr für Verena gefühlt hatte, als es seine Absicht gewesen war. Und mehr noch. Er selbst war verantwortlich für das kranke Kind, das er gezeugt hatte und das sein Sohn nicht lieben lernen konnte. Ihn hatte er zuallererst im Sinn gehabt, Sophie aus dem Weg geschafft zu haben. Justus’ Ehe hatte unter keinem guten Stern gestanden, schrieb VaterFriedhelm in seinem Tagebuch. Er hielt ihn zudem für egoistisch, denn als das Kind da war, hatte es ihn wenig interessiert. Vielmehr hatte er dessen intensive Betreuung durch Verena als lästig empfunden und es vermisst, dass sie sich ausschweifend um ihn selbst gekümmert hatte. Das war harter Tobak, fand Marga.
Sie fragte sich, ob Friedhelm seinem Sohn wirklich gesagt hatte, dass er Sophies Vater war. Als besonders interessant erwiesen sich die letzten Einträge kurz vor Friedhelms Tod. Der besondere Umstand, der ihm seinerzeit komisch vorgekommen, ihm aber entfallen war, hatte sich wieder in sein Bewusstsein gedrängt. Nach wie vor hielt er seine Idee, die er leider nicht genauer im Tagebuch beschrieb, für eine aberwitzige, wollte ihr aber dennoch nachgehen. Am Abend vor seinem Ableben endeten die Aufzeichnungen. Er schien auf der richtigen Spur gewesen zu sein, vermutete Marga, und die schien nach Bückeburg zu führen. Doch wenn er Justus verdächtigt hatte, konnte sie die Verbindung ins Weserbergland nicht nachvollziehen. Es sei denn, im Hintergrund hätte es noch ganz andere Verpflechtungen gegeben, von denen sie nichts wussten.
Sie machte sich Notizen und beschloss, Thorsten am nächsten Morgen sofort anzurufen.
Toni
Der nächste Tag kam für Toni früher als sonst. Das lag unter anderem daran, dass sie ihrer Schwester noch bis spät in die Nacht einen Brief geschrieben hatte, aber auch daran, dass sie die Kinder zu ihrer Freundin bringen wollte, denn sie hatte vor, einen Ausflug mit Valentin zu machen. Ihrer Schwester hatte sie die Neuigkeit noch nicht offenbart, dass er und sie inzwischen ein Paar waren. Das hatte auch noch Zeit, fand sie.
Nachdem sie Grit, Liv, Jane und die Pudel zu Silvia nach Obernkirchen gebracht hatte, holte sie Valentin ab. Es war ein herrlicher Tag und doch war ihr selbst ein wenig mulmig, wenn sie
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