SchattenGrab
nicht akzeptieren. Stell dir mal vor, sie muss immer wieder in den Brunnen gestiegen sein und sich Teile ihrer Tochter geholt haben.“
„Ekelig“, fand Ingo und stellte sich vor, dass sie ihre Marie vielleicht in den unterschiedlichsten Verwesungsstadien vorgefunden hatte.
„Ich habe eine Idee“, sagte Thorsten, „wir bitten Marga, ihr die Puppe abzuschwatzen. Sie hat einen ganz guten Draht zu Marianne Görlitz und durfte den Engel sogar schon mal halten. Sie wird sich auch gruseln, wenn sie erst weiß, was darin verborgen ist.“
Thorsten informierte Marga, die es zunächst bei dem Gedanken schüttelte, einen Totenkopf im Arm gehalten zu haben. Aber sie erklärte sich bereit, mit einer Austauschpuppe zu Marianne Görlitz zu fahren und es ganz vorsichtig zu versuchen, die Ermittlungen voranzubringen. Nachdem Thorsten aufgelegt hatte, wurde er von Torben Rosin angesprochen, der sich weiter mit der Wand im verborgenen Keller beschäftigt hatte. Auch Ingo war sehr interessiert.
„Ich habe hier ein paar handgeschriebene Seiten gefunden. Sieht aus wie aus einem Tagebuch“, sagte er nachdenklich. „Sie könnten herausgeschnitten worden sein. Die eine Längskante ist uneben und am unteren Ende zackig.“
„Das passt zu dem, was mir Iris Hoppe heute Vormittag gesagt hat. Sie hat in dem Tagebuch von 1966 eine Stelle gefunden, an der Seiten herausgetrennt worden sind“, erklärte Thorsten. „Hinterher ging es dann mit dieser Geschichte weiter, dass das Mädchen in ein Heim gebracht worden ist.“
„Nur verschrieben, oder eine kleine Korrektur der Wahrheit?“, fragte Ingo.
„Gib mal die Seiten her, bitte“, sagte Thorsten, „war sonst noch was in der Wand?“
„Nein“, antwortete Torben Rosin.
„Ist der Rechtsmediziner schon da?“, wollte Ingo wissen.
„Auch nicht, aber ich sag euch Bescheid“, versprach Torben und ging wieder in den Keller.
„Wenn die DNA aus der Kinderbürste mit der aus der Mauernische übereinstimmt, können wir mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass es sich um das verschwundene Mädchen Marie handelt. Alles andere macht ja keinen Sinn“, überlegte Thorsten und nahm die Tagebuchseiten in die Hand. Nach den ersten Sätzen begann er von vorn laut vorzulesen.
17. Februar 1966
Erst heute komme ich dazu, wieder einen Eintrag ins Tagebuch zu machen. Hinter mir liegt die schlimmste Zeit meines Lebens. Unsere kleine Marie ist tot und ich bin schuld daran.
Am Abend des 5. Februar hatte meine Frau mich gebeten, Wasser für Marie zum Baden einzulassen. Für sie selbst ist es in der fortgeschrittenen Schwangerschaft zu schwierig gewesen. Marie war ungeduldig und wollte schon in die Wanne. Das haben wir oft so gemacht. Ich weiß heute nicht mehr, ob ich das Wasser zu heiß aufgedreht hatte, oder ob sie am Hahn gespielt haben muss. Nur ganz kurz war ich aus dem Raum, denn das Telefon hatte geklingelt.
Als ich wieder ins Bad kam, lief das Wasser noch. Marie lag rücklings flach auf dem Boden der Wanne mit rotem Gesicht. Sie war auch etwas gelb um die Nase und starrte nachoben durch das Wasser. Ich stand nur da, regungslos, und entschied mich, nicht zu handeln.
Dann rief Marianne aus der Küche. Ich antwortete nicht. Immer noch stand ich da und schaute nur.
Plötzlich war Marianne in der Tür. Mit einem Blick hatte sie die Situation erfasst. Sie schrie. Ich hielt sie zurück. Es war gut so wie es war, fühlte ich. Meine Frau war doch schon längst wieder schwanger.
Aber Marianne wollte sich nicht beruhigen. Sie tobte, trat nach mir und schrie mich an, ich solle unsere Tochter retten. Ich sei doch Arzt. Noch immer habe ich ihr animalisches Schreien im Ohr.
Sie sei längst tot, sagte ich zu ihr, man könne nichts mehr machen, um sie ins Leben zurückzuholen.
Dem Aufbäumen und Kreischen folgte der Zusammenbruch und das Weinen. Ich ließ Marianne auf den Boden sinken, drehte das Wasser ab und zog den Stöpsel aus der Wanne.
Sie solle jetzt an das ungeborene Kind denken, erklärte ich ihr. Dann hob ich Marie aus der Wanne und trug sie in den Keller, wo es kühl war. Sie war ganz leicht. Unten schloss ich ihr die Augen.
Es war undenkbar für mich, die Polizei zu rufen. Vielleicht hatte ich ihren Tod verursacht, ihn aber zumindest billigend in Kauf genommen. Möglicherweise hätte ich sie retten können, wenn ich sofort reagiert hätte. Damit hatte ich auch meinen hippokratischen Eid gebrochen.
Ja, ich liebte Marie, aber das Leben mit ihr war anstrengend und schwierig. Sie brauchte
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