Schattengreifer - Die Zeitenfestung
Kraft. Er musste gegen sich selbst ankämpfen, um nicht stehen zu bleiben und aufzugeben.
Sie hatten Nin-Si verloren!Jessica rannte in ihrer Wohnung auf und ab wie ein gefangenes Raubtier in seinem Käfig. Es war bereits spät am Abend, und noch immer hatte sie keine Nachricht von Tom erhalten. Dabei wollte er sie doch informieren, wenn es Neuigkeiten gab.
Hatte er etwa nichts herausfinden können? Aber selbst dann hätte er sich doch gemeldet. Tom war ein zuverlässiger Junge. Einer, dem man vertrauen und auf den man bauen konnte.
Die Angst in Jessica steigerte sich mehr und mehr. Sie wollte nicht auch noch Tom verlieren, nachdem sie schon nicht wusste, wo sich ihr Mann und ihr Sohn befanden.
Schließlich hatte ihre Geduld ein Ende. Sie rannte in die Küche und griff sich das Telefon. Fahrig wählte sie die Nummer von Toms Zuhause. Aber noch vor dem Erklingen des ersten Wähltons legte Jessica schnell wieder auf.
Sie wollte keinesfalls Toms Mutter beunruhigen. Was sollte sie denn bloß denken, wenn sie erfuhr, dass Jessica auf ein Lebenszeichen von Tom wartete?
Möglicherweise war Tom aber auch längst zu Hause. Vielleicht hatte er tatsächlich nichts erreicht und meldete sich daher nicht und …
Jessica war jetzt außer sich vor Sorge.
Es half nichts. Sie brauchte Gewissheit.
Sie drückte die Wahlwiederholungstaste des Telefons und ließ es klingeln.
Einmal, zweimal, dreimal …
»Hallo?«
»Ruth! Bist du das?« Jessicas Stimme klang aufgebrachter, als es ihr recht war.
»Jessica«, tönte es vom anderen Ende her. »Ist etwas passiert?«
Jessica zwang sich zur Ruhe. »Nein. Ich wollte bloß wissen … Ist Tom bei dir?«
»Tom? Nein. Ich dachte, er ist bei Simon. Ich warte schon mit dem Abendessen. Ist er denn nicht bei euch?«
Jessica biss sich auf die Lippen. Sie hätte sich ohrfeigen können für diesen Anruf. »Nein, hier ist er nicht. Und ich weiß auch nicht, wo er ist«, gab sie zur Antwort, und das war ja auch keine Lüge. »Er war nur heute Mittag hier gewesen und … und … ich wollte ihn noch etwas fragen.«
Toms Mutter lachte. »Ach, das passiert immer wieder einmal. Du kennst ihn doch, unseren Forscher, oder? Wenn der unterwegs mal wieder Rätsel löst, Insekten sammelt oder sich die Natur anschaut, dann vergisst er einfach die Zeit. Alles Schimpfen hat nichts gebracht bisher. Wenn er in seine Experimente vertieft ist, vergisst er, dass er eine Mutter hat, die sich sorgt. Bitte, Jessica, mach dir keine Gedanken. Der taucht schon noch auf. Und dann meldet er sich bei dir. Einverstanden?«
Jessica nickte am Telefon. »Ja. Ich danke dir«, sagte sie noch, dann legte sie auf.
Die Gelassenheit von Ruth hatte auch sie etwas beruhigt. Aber nur etwas. Jessica wurde die Angst nicht los, dass Tom sich in Gefahr befand. So wie Christian und Simon in Gefahr schwebten.
Simon rannte hinter Moon über den Tempelhof, ohne es richtig wahrzunehmen. Er fühlte sich leer und matt. Sie hatten versagt.Wieder einmal. Nin-Si war verloren. Sie hatten sich überschätzt. Inzwischen hatte der Schattengreifer bestimmt schon die schützende Wand der sumerischen Familien im Saal durchbrochen, die sich vor Nin-Si gestellt hatten. Vielleicht führte er gerade jetzt wieder den Schatten in Nin-Sis Körper.
Simon hätte aufschreien können vor Wut. Am liebsten wäre er umgekehrt und zurückgelaufen, doch Moon trieb ihn immer wieder an. Mal zerrte er Simon am Arm, mal berührte er nur seine Schulter.
»Komm, wir müssen aus der Stadt heraus. Wir müssen zum Schiff!«
Zum Schiff? Ohne Nin-Si? Simon sah keinen Sinn mehr in ihrem Tun. Für ihn war alles verloren.
Gemeinsam liefen sie durch das Stadttor. Von dem Kampf, der ganz bestimmt noch immer im Inneren des Palastes weiterging, war hier draußen nichts zu hören. Die Menschen in der Stadt ahnten nichts von dem, was in ihrem Palast vor sich ging.
Als sie das Tor passiert hatten, blieb Simon abrupt stehen. Er traute seinen Augen nicht.
»Ich konnte es dir vorhin nicht sagen«, entschuldigte sich Moon. »Man hätte uns hören können. Ich konnte doch nicht laut aussprechen, dass …«
Neferti und Caspar lachten Simon entgegen. Ihre Gesichter strahlten so erleichtert und glücklich, wie sich Simon gerade in seinem Inneren fühlte. Er streckte beide Hände aus, und Nin-Si hieß ihn willkommen.
»So etwas hat noch nie jemand für mich getan«, sagte sie dankbar, während sie seine Hände ergriff. »Ich stehe tief in deinerSchuld. Ich konnte ja nicht ahnen, wer
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