Schattengreifer - Die Zeitenfestung
Nin-Sis Schatten in die Höhe hob, direkt über ihren Mund, um den Schatten in ihren Körper zu führen.
»Nimm den Schatten in dir auf«, beschwor sie der Magier. »Werde wieder eins mit ihm. Dann wird er sich einen Weg aus deinem Körper suchen, sich an dich heften und dir wieder zu Diensten sein. Er wird dich begleiten auf Schritt und Tritt. Er wird …«
Hoch konzentriert sprach der Schattengreifer seine Formel. Und dies war die letzte Sekunde, in der Simon noch etwas für Nin-Si tun konnte, bevor sie für immer verloren wäre.
Ohne weiter darüber nachzudenken, hastete er los, an den beiden Wachen vorbei, die ihn vorhin noch in Schach gehalten hatten, zum Eingang des Saals, auf Nin-Si und den Schattengreifer zu. Beinahe schon berührte Nin-Sis Schatten ihre Lippen.
Simon schrie auf und sprang. Er hechtete zwischen Nin-Si und ihren Schatten und nahm, mit seinem vom Schrei geöffneten Mund, ihren Schatten in sich auf. Die Lehmwand fing unsanft seinen Sprung auf. Hart prallte Simon dagegen und stürzte zu Boden.
Er hörte den Schattengreifer rufen. Er hörte ihn toben. Er hörte ihn fluchen. Doch Simon konnte ihn nicht sehen. Um ihn herum war alles schwarz. Und in seinem Inneren entbrannte plötzlich ein Kampf. Der Schatten in Simons Körper versuchte wieder zu entfliehen. Simon spürte, wie der Schatten sich in ihm bewegte. Wie er gegen die Rippen stieß, wie er sich gegen die Wirbelsäule lehnte. Wie er versuchte, sich in Simon aufzurichten. Wie er nach einem Ausweg aus diesem fremden Körper suchte, so wie die Zauberformel es ihm offenbart hatte. Doch er fand anscheinend keine Möglichkeit, aus Simon herauszutreten.
Simon hatte das Gefühl, es zerreiße ihn gleich. Er war Schmerzen gewohnt, doch dieses hier überstieg alles, was er bisher durchgemacht hatte.
Plötzlich konnte er wieder sehen. Das Schwarz vor seinen Augen verschwand so schnell, wie es aufgetaucht war. Er sah den Schattengreifer, der sich verblüfft vor ihm aufgebaut hatte und der mit Entsetzen auf den Jungen starrte.
Simon sah seine Freunde, wie sie auf ihn zugeeilt kamen. Auch in ihren Augen erkannte er blankes Grauen.
Und schließlich kamen die Einwohner von Ur auf ihn zu. Sie sahen bestürzt auf Simon herab, der noch immer auf dem Boden lag und mit dem zu kämpfen hatte, was in ihm vorging.
Simon blickte an sich herab und erkannte den Grund für die entsetzten Blicke aller Umstehenden. Sein Körper verformte sich. Erst an seiner Brust, dann an seinem Bauch. Konturen zeichneten sich ab, Umrisse des Schattens, der sich von Simon zu befreien versuchte. Unter Simons Haut waren die Hände zu erkennen. Dann die Füße. Schließlich die Form des Kopfes, der sich von der Brust zu einer Schulter bewegte und diese wie eine riesige Kugel verformte.
Simon schrie auf. Ein gellender Schrei. Ein Schrei aus Angst und aus Schrecken. Ein Schrei, der die Umstehenden aus ihrer Erstarrung riss.
Caspar nutzte endlich die Schrecksekunde, um sich auf den Schattengreifer zu stürzen. Auch Moon sprang auf den Magier zu, der sich verzweifelt wehrte. Als schließlich Nin-Si voller Wut auf den Magier zurannte, da verstanden auch ihre Landsleute. Dutzende von ihnen kamen auf den Schattengreifer zugesprungen.Sie brachten ihn zu Fall, hielten ihn an seinen Händen und Füßen fest.
Der Magier schrie auf und wand sich hin und her. Eine ältere sumerische Frau drückte ihm eine Decke auf das Gesicht. Sie wollte dem Schrecken wohl sein Antlitz nehmen.
Der Magier kämpfte verzweifelt dagegen an. Er war außerstande, Formeln oder Flüche auszustoßen. Für kurze Zeit war er überwältigt und machtlos.
Neferti starrte tränenüberströmt auf Simon, der sich noch immer gegen die Schmerzen wehrte. Ihre Blicke trafen sich.
»Raus!«, rief Simon ihr zu, bevor ein weiteres Aufbäumen des Schattens in ihm neue Schmerzen hervorrief. »Bring mich raus! Nin-Sis Schatten muss aus dem Saal. Der Zauber kann nur hier rückgängig …« Seine Worte gingen unter in dem Kampf, den er mit dem fremden Schatten in seinem Inneren führte.
Neferti hatte bereits verstanden. Sie griff nach seinen Händen und rief nach Nin-Si. »Hilf mir!«
Das Mädchen ließ von dem Schattengreifer ab und kam auf Simon zugestürzt.
»Wir müssen ihn rausschaffen«, erklärte Neferti.
Nin-Si packte Simons Beine, und gemeinsam zogen sie ihn über den Boden des Palastes. Immer wieder zuckte Simon und bäumte sich auf und machte es ihnen so fast unmöglich, ihn nach draußen zu bringen.
Inzwischen hatte
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