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Schattengrund

Schattengrund

Titel: Schattengrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Herrmann
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noch das Alphabet gelernt. Konnte es sein, konnte es wirklich sein, dass dort oben im alten Stollen die Antwort auf all die quälenden Fragen zu finden war? Dass sie mit letzter Kraft etwas an die Wand geschrieben hatte? Eine Botschaft. Einen Hinweis. Einen … Namen.
    »Weiß ich nicht! Hab nicht drauf geachtet! Da war Fili, auf dem Boden. Die war wichtig!«
    Nico schluckte schwer an der Enttäuschung, nicht mehr aus Maik herauszubekommen. So nah dran. Maik, nur ein Blick, nur ein kurzes Leuchten mit der Taschenlampe. Ein Name. Und alles, alles wäre anders gekommen. Mein ganzes Leben hätte es verändert, dachte sie. Und das von Kiana dazu. Fili hat uns verraten, wer sie gequält hat. Und du hast nicht hingesehen. Einfach nicht hingesehen. Sie konnte ihm noch nicht einmal einen Vorwurf machen. Vermutlich hätte sie selbst genauso gehandelt.
    Mühsam sagte sie: »Ja, du hast recht. Natürlich.«
    »Ich hab sie hochgehoben. War ganz schwer. So ein kleiner Floh und lag wie Blei auf meinen Armen. Den ganzen Weg hinunter nach Siebenlehen hab ich mit ihr geredet, aber sie hat nicht geantwortet. Ich weiß nicht, ob sie noch gelebt hat. Vielleicht hat sie noch gelebt. Wenn ja, dann war sie nicht alleine.« Seine Worte wurden langsamer, stockten. »Als ich ins Dorf kam, sind mir Leute entgegengekommen, die dann stehen geblieben sind und sich bekreuzigt haben. Bis zum Schwarzen Hirschen bin ich mit ihr gelaufen und alle Leute schweigend hinter mir her. Wie unsere Prozession. Nur dass ich diesmal die heilige Barbara auf meinen Armen getragen habe. Ohne nach links und rechts zu sehen. Hab nur Fili angeschaut. Ganz blass war sie, ganz kalt. Da waren noch Tränen in ihren Wimpern. Sie waren gefroren … Das war so traurig. Ich glaube, ich werde das nie vergessen. Mein ganzes Leben lang nicht.«
    Er schluchzte auf und vergrub sein Gesicht in der Armbeuge. Nico strich ihm sanft über den Unterarm. Dabei musste sie sich zusammenreißen, um nicht mitzuweinen. Es dauerte eine ganze Weile, bis er ruhiger wurde, die Nase hochzog und ihr wieder in die Augen sehen konnte.
    »Ich muss in den Stollen«, sagte sie. »Heute Nacht noch.«
    Maik nickte. »Wegen der Buchstaben? Ich hab nicht hingeguckt. Das tut mir leid.«
    »Das ist doch okay. Mach dir keine Vorwürfe.«
    »Wenn du gehst, dann komme ich mit.«
    Sie hatte nichts anderes erwartet.

Siebenunddreißig
    Gero Schumacher kehrte zurück in seine kleine 2-Zimmer-Wohnung im ersten Stock des Gemeindehauses. Das Gespräch mit den beiden jungen Leuten hatte ihn aufgewühlt. So vieles schien wieder in Bewegung gekommen zu sein. Gutes, aber auch Schlechtes. Sehr Schlechtes.
    Die Wohnung, in der er lebte, diente ihm als privater Rückzugsort von den Sorgen und Problemen der Gemeinde. Er hatte sie mit einer Stereoanlage ausgestattet und einem Regal, das der Tischler aus Thale exakt der Dachschräge angepasst hatte. Es war voll mit Büchern. Auf dem Dielenboden lag ein Flickenteppich. Darauf standen schlichte Armlehner aus Birkenholz und ein runder, niedriger Tisch, auf dem er das Buch abzulegen pflegte, das er gerade las. Die Wasserkaraffe wurde jeden Tag von Frau Herold, der Gemeindeschwester, aufgefüllt.
    Er wählte die Goldberg-Variationen von Glenn Gould. Als die Klavierläufe durch das Zimmer perlten, stellte er die Musik leise und nahm Platz. Er hätte gerne weitergelesen. Im Moment beschäftigte er sich mit einem archäologischen Bericht von der Auffindung der Qumram-Rollen. Noch bevor er seine Brille aufsetzen konnte, wusste er, dass er dazu weder die nötige Konzentration noch die Geduld aufbringen würde.
    Er trank einen Schluck Wasser. Schließlich stand er wieder auf und ging ans Fenster. Von hier aus konnte er Teile des Friedhofs und die Rückansicht der kleinen Kirche sehen. Seine Gedanken wanderten zur heiligen Barbara, die immer noch in der Apsis stand. Die bleiche Wachsfigur war für ihn stets ein Sinnbild der Märtyrerin gewesen. Er hatte sich verboten, etwas anderes in ihr zu sehen. Das Gesicht eines Kindes, das er selbst gekannt hatte …
    Die Heiligenfigur war Zacharias’ Buße. Seine Art, Reue zu zeigen. Fili, unvergessen … Die Vergebung ist des Herrn. Er dachte an das Matthäus-Evangelium und Petrus’ Frage, wie oft man seinem Bruder vergeben müsse, der sich versündigt hatte. Siebenmal?
    Der Herr hatte Zacharias vergeben. Auch Trixi, auch Zita, allen, die echte Reue zeigten. Und ihm, Gero, dem Geringsten unter den Dienern? War auch ihm vergeben? Würde er ihm

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