Schattengrund
verzeihen, was ihn seit dieser Nacht vor zwölf Jahren verfolgte und ihm keine Ruhe mehr ließ? Bilder, die seinen Schlaf zernagten und seine Seele zerfraßen, geschluchzte, gestammelte Worte, die er nicht hören wollte … Das Gefühl, nur noch eine leere, funktionierende Hülle zu sein …
Und endlich, endlich war es still geworden in Siebenlehen, so friedlich und still. Kianas Tod hatte einige in diesem Dorf aufatmen lassen. Wo kein Kläger mehr, da kein Richter. Doch dann war dieses Mädchen aufgetaucht und fing an, dieselben Fragen zu stellen wie Kiana. Was genau war geschehen in jener Nacht? Und wo war er, Gero, gewesen? War es nicht an der Zeit, endlich die Wahrheit zu sagen? –Nein. Das wäre das Ende.
Er ging zurück zum Tisch und wollte sich neu einschenken, doch die Karaffe war leer. Er nahm sie mit in die Küche auf der anderen Seite der kleinen Wohnung. Während er das Wasser einlaufen ließ, fiel sein Blick durch das Fenster genau auf Schattengrund. In diesem Moment ging dort das Licht im Wohnzimmer aus. Gero kniff die Augen zusammen. Hatten seine Sinne ihm einen Streich gespielt? Nein. Die Haustür öffnete sich und heraus traten zwei dick vermummte Gestalten.
Über die Entfernung hinweg und verschleiert von zarten Schneenebeln konnte er nicht erkennen, um wen es sich handelte. Die Kleinere von ihnen musste das Mädchen sein, Nicola. Die andere aber … Das Wasser lief über. Hastig drehte er den Hahn zu, dabei machte er sich die Ärmel seines Hemdes nass. Er suchte ein Handtuch und trocknete erst die Karaffe und dann sich selbst ab. Mit dem Lappen in der Hand beugte er sich noch einmal ans Fenster. Die beiden waren weg.
Das gibt es doch gar nicht, dachte er. Sie müssten doch direkt auf mich zukommen. Er starrte hinaus, aber die Straße blieb leer. Mit einem Kopfschütteln hängte er das Handtuch weg. Waren sie etwa hinter das Haus gegangen, um Holz zu holen? Dafür musste man sich aber nicht einpacken wie auf einer Polarexpedition. Er wollte gerade nach der Karaffe greifen, als ihm eine weitere, ungeheuerliche Möglichkeit einfiel.
Er löschte das Licht und kehrte zum Fenster zurück. Dort blieb er stehen und wartete. Nach ein paar Minuten hatte er zum ersten Mal das Gefühl, dass etwas Ungewöhnliches geschah. Er fuhr sich über die Augen und strengte sich noch mehr an, das Gelände hinter Schattengrund abzusuchen. Da. Da war es wieder.
Ein kleiner Lichtkegel blitzte zwischen den Bäumen am Hang auf. Er spürte, wie alles Blut aus seinem Kopf wich. Die Beine drohten ihm einzuknicken. Er musste sich auf dem Waschbecken abstützen. Als er sich gefangen hatte, wagte er einen letzten Blick hinaus in den Wald – auf die dunkle, gewaltige Felswand des Berges, die sich hinter Schattengrund erhob.
Sie machten sich auf den Weg. Ihm war klar, wohin sie wollten. Sie suchten nach den letzten Spuren. Und er, Gero, hatte sie erst auf die Idee gebracht.
Das war Wahnsinn. Er durfte das nicht zulassen. Er musste schneller sein.
Gero Schumacher stürzte aus seiner Wohnung, und erst in letzter Sekunde dachte er daran, Schal, Mütze und Handschuhe mitzunehmen. Es war kalt draußen. Fast so kalt wie vor zwölf Jahren. Als er die Tür hinter sich schloss, fiel es ihm wieder ein. Nicht nur siebenmal musst du vergeben, sprach Jesus, sondern siebenundsiebzigmal. Gero befürchtete, dass noch nicht einmal diese Zahl für ihn ausreichen würde.
Achtunddreißig
Leon klopfte. Er wartete nicht auf die heisere Antwort seines Vaters. Er drückte gleich die Klinke hinunter und betrat den kleinen Raum im zweiten Stock. Zimmer 24. Es war ähnlich geschnitten und eingerichtet wie alle anderen Gästezimmer dieses Hauses. Mit einem Unterschied: Es sah aus, als wäre ein 20-Kilo-Koffer darin explodiert.
Leons Vater lag im Bett. Seine Nase war gerötet vom Schnupfen, die dunklen Augen glänzten fiebrig. Das dichte braune Haar, an den Schläfen von silbernen Fäden durchzogen, klebte feucht am Kopf. Das kräftige Gesicht mit den Zügen eines Bergbauern war blass, nur die Wangen leuchteten fiebrig rot.
»Ach, du bist es.« Lars Urban versuchte, sich ein wenig aufzurichten.
Leon sah sich um und nahm dann einen Winterstiefel von der Sitzfläche eines Stuhls. Etwas ratlos stellte er den Schuh auf den Boden und setzte sich.
»Ich dachte, Trixi bringt mir endlich einen Tee. Ich habe sie schon vor zwei Stunden darum gebeten. Mir wird wohl nichts übrig bleiben, als selbst in die Küche zu gehen.«
»Nein«, sagte Leon schnell.
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