Schattengrund
Geschichte langsam tierisch auf den Geist. Nur Nico zuliebe setzte er sich überhaupt damit auseinander. Ihr zuliebe hatte er seinen eigenen Vater eines schrecklichen Verbrechens verdächtigt … Damit war nun endgültig Schluss! Hoffentlich sah sie ein, dass sie sich verrannt hatte.
»Aber es ehrt sie, dass sie sich so um die Aufarbeitung dieser ganzen Geschichte kümmert. Am besten, du bringst sie her, und wir klären das. Es ist mir wichtig. Ich will nicht, dass jemand, der dich gernhat, solche Dinge über mich denkt und sich damit quält.«
»Sie hat mich nicht gern.«
»Nun, vielleicht sollte ich sagen: Jemand, den du gernhast?«
Leon stieß ein wütendes Schnauben aus. Sein Vater hatte Mühe, das Lächeln in seinem Gesicht zu verbergen.
»Wo ist sie? Hol sie rauf.«
Leon sah auf seine Uhr. Es war halb zehn.
»Jetzt?«
»Morgen früh, wenn die Straßen frei sind, fahren wir. Ich will am Abend in Calais sein und die Fähre nach Dover bekommen. Also bleibt uns dann keine Zeit mehr. Wer so einen schrecklichen Verdacht mit sich herumträgt, sollte das nicht länger tun als unbedingt notwendig. Außerdem möchte ich gerne das Mädchen kennenlernen, das meinem Sohn so wichtig ist, dass er ihren Kummer derartig zu seinem gemacht hat. Und das ihn dazu bringt, im stolzen Alter von einundzwanzig Jahren noch die Gesichtsfarbe zu wechseln.«
Leon stand schnell auf und drehte sich weg. »Du hast recht. Ich gehe schnell rüber und hole sie. Und dann reden wir miteinander.«
Der Vater lächelte. Er sah seinem Sohn hinterher, der aus dem Zimmer stürmte und dem Gepolter nach drei Stufen auf einmal hinunternahm. Lars’ Lächeln verschwand schlagartig. Er warf die Decke zurück und suchte in aller Hast nach seinen Hosen.
Neununddreißig
»Ich kann nicht mehr.«
Nico ließ sich auf einen Baumstumpf sinken und griff nach der Thermoskanne mit heißem Tee, die sie vorsorglich noch vor ihrem Abmarsch gefüllt hatte. Sie hatten die Wegkreuzung erreicht. Ihnen gegenüber hockte die Hexe im Schnee.
Das sah natürlich nur so aus. Es hatte so viel geschneit, dass der Wegweiser fast ganz versunken war. Die Holzfigur trug eine weiße Mütze. Sie hielt sich krumm, als ob sie einen Buckel oder eine Kiepe auf dem Rücken hätte. Das Größte an ihr war die gewaltige Nase. Wenn Nico sich nicht täuschte, hatte ihr der Schöpfer dieser bezaubernden Arbeit auch noch eine gewaltige Warze auf den Zinken gesetzt.
Die Schrift auf den drei Brettern war in der Dunkelheit nicht zu erkennen. Aber Nico wusste, was auf ihnen stand: SIEBENLEHEN . Aus dieser Richtung waren sie gekommen. Wenn sie sich umgedreht hätte – aber zu dieser unnötigen Bewegung fehlte ihr einfach die Kraft – , dann hätte sie gesehen, dass der Weg hinter ihrem Rücken sanft hinabführte und nach einer Biegung zwischen den Felsen verschwand. Richtung Altenbrunn zeigte der Wegweiser nach rechts. Auf den Brocken kam man, wenn man links abbog. Nur geradeaus ging es nicht weiter. Die Lücke zwischen den Baumstämmen könnte ein verwehter Trampelpfad sein, doch er verlor sich schon nach wenigen Metern.
Immer noch schwebten winzige Kristalle vom Himmel. Ab und zu, wenn das Gewicht auf den Zweigen der Bäume zu schwer wurde, rauschte eine kleine Lawine herab. Der Wind frischte auf. Noch war davon nicht viel zu merken, aber Nico sah die zerrissenen Wolkenfetzen, die schneller und schneller über den dunklen Himmel zogen und den Mond fast vollständig verbargen. Sie hatte keine Ahnung vom Wetter, aber das sah nicht gut aus. Vor ihrem Mund bildete der Atem weiße Wölkchen. Das kam vom Tee, aber auch von der Kälte. Die Temperaturen mussten weit unter dem Gefrierpunkt liegen. Trotzdem war ihr nicht kalt. Vielleicht hatte sie Fieber? Am liebsten hätte Nico den Reißverschluss ihrer Jacke geöffnet, doch dazu hätte sie die Handschuhe ausziehen müssen. Kraftverschwendung.
Maik stapfte ein paar Schritte voraus auf den verschneiten Trampelpfad zu, dann kam er wieder zurück. Bis jetzt war er ein aufmerksamer und geduldiger Führer gewesen. Er kannte jeden Stein, jeden Baum. Nico wusste, dass sie ohne ihn verloren wäre.
»Wie weit ist es denn noch?«
Sie hörte sich an wie ein kleines, quengelndes Kind. Doch die Müdigkeit und der wenige Schlaf forderten ihren Tribut.
»Bis hierhin ist es die Hälfte.«
Maik ging in die Hocke. Sie reichte ihm die Flasche. Er nahm einen tiefen Schluck.
»Erst die Hälfte?«
»Das Schlimmste haben wir geschafft. Jetzt geht es nicht mehr
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