Schattengrund
genug.«
Er nahm die Taschenlampe und eilte hinaus. Es war die Angst, die ihm Flügel verlieh. Die Angst um Nico.
Einundvierzig
Nico hatte Seitenstechen. Sie musste stehen bleiben und sich an einem Baum abstützen, was sich sofort mit einer Ladung Schnee von oben rächte.
»Maik! Warte auf mich!«
Sie hatten wohl den Gipfel des Berges erreicht, denn ihr Führer schlug sich nach rechts durchs Gebüsch. Falls es jemals einen Weg gegeben hatte, so war er inzwischen komplett zugewuchert und unter dem Schnee nicht mehr zu erkennen. Dornengestrüpp hatte sich um ihre Knöchel gehakt. Mühsam versuchte sie, sich davon zu befreien. Mit Grauen dachte sie daran, dass der ganze Abstieg noch vor ihr lag.
»Was ist denn?«
Zweige knackten, Eis und Schnee knirschten. Maiks große, dunkle Gestalt tauchte ein Stück weiter vorne wieder auf. Das Eisenzeug an seinem Gürtel klirrte und erfüllte einen ähnlichen Zweck wie die Glöckchen, die man Ziegen um den Hals band. Sie würde zumindest akustisch immer mitbekommen, wo er sich befand.
»Ich bin zu schnell gelaufen!«, keuchte sie und hielt sich die Seite. »Warte!«
Ihre Beine zitterten. Am liebsten hätte sie sich in den Schnee fallen lassen.
»Komm jetzt.«
Er packte sie am Arm und zog sie weiter. Nico stolperte über eine Wurzel und ging in die Knie.
»Ich kann nicht mehr! Wie weit ist es denn noch?«
»Nicht mehr lange. Zwei Minuten, nur gradeaus.«
Sie ergriff seinen Arm und zog sich hoch. Dabei rutschte ein Schal aus der Jacke. Das Licht der Taschenlampe fiel für den Bruchteil einer Sekunde darauf. Nico stolperte einen Schritt zurück.
»Mein Schal. Maik, woher hast du meinen Schal?«
»Weiß ich nicht. Lag rum.«
Er wollte weitergehen. Sie erwischte ihn gerade noch am Hosenbein.
»Maik! Du kannst mich doch hier nicht allein lassen!«
Er riss sich los. »Schnell«, sagte er. »Sie kommen.«
Nico starrte ihn an. »Wer?«
Maik lief weiter. Nico rappelte sich auf und stürzte hinter ihm her.
»Wer kommt? Maik?«
Ein Schlag traf sie auf die Schulter, so gewaltig, dass sie zu Boden ging. Sie landete mit dem Gesicht im Schnee und schlug wild um sich. Ihr Kopf kam wieder hoch. Ihre Wange war aufgeschlitzt, warmes Blut lief ihr in den Mund. Die Taschenlampe lag zwei Meter weiter im Schnee und beleuchtete einen Tannenzweig, der bizarre Schatten warf. Zitternd vor Entsetzen kroch Nico auf den Lichtkegel zu. Ein weiterer dumpfer Schlag, direkt neben ihrem Kopf. Noch einer. Und noch einer. Im Bruchteil einer Sekunde sah sie etwas fallen. Sie nahm die Lampe und leuchtete in die Dunkelheit.
»Maik?«
Ihre Stimme drohte zu versagen. Nur mühsam kam sie wieder auf die Beine.
»Maik! Wo bist du?«
Sie lenkte den Strahl Richtung Boden. Im Schnee lag ein schwarzer Klumpen. Langsam humpelte sie darauf zu und berührte ihn mit der Fußspitze. Es war ein Vogel. Und er war tot vom Himmel gefallen.
Sie machte die Lampe aus und blieb stocksteif stehen. Sie zwang sich, leise und ruhig zu atmen. Es dauerte eine Weile, dann konnte sie die verschiedenen Geräusche des Waldes wieder voneinander unterscheiden. Der Wind, der sanft, aber trotzdem gewaltig über den Bergrücken strich und nach unten ins Tal fiel. Das Rieseln von Schnee, der von den Zweigen fiel. Weit entfernt der Schrei einer Eule. Ein Knacken, nah.
Sie fuhr herum und leuchtete in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Nichts. Die Lampe reichte nicht weit genug, und die Schatten, die das Licht warf, wirkten noch beunruhigender als die Dunkelheit.
»Maik?«
Wo zum Teufel war er? Noch ein dumpfer Schlag, zehn Meter entfernt. Sie wusste nicht, wohin sie rennen sollte, um sich vor dieser unglaublichen mörderischen Attacke aus dem Himmel in Sicherheit zu bringen. Er konnte sie doch hier oben nicht einfach im Stich lassen! Oder hatte ihn ein Vogel schachmatt gesetzt? Nico hatte von diesem Phänomen gehört. Wissenschaftler vermuteten Eishagel in großer Höhe. Wenn dann etwas die Vögel aufschreckte und so hoch trieb, erfroren sie im Flug und fielen wie Steine auf die Erde.
Doch was könnte sie so aufschrecken? Silvesterböller zum Beispiel, hatten die Wissenschaftler gesagt. Aber das war keine Erklärung, die im Moment besonders hilfreich war. Maik war verschwunden. Das stand fest. Selbst das Klirren seines Gürtels war nicht mehr zu hören. Er hatte geahnt, dass etwas nicht stimmte. Tote Vöglein. Tote Kinder. Er war in seinem Wahn gefangen, und er würde in den Stollen zurückkehren, weil irgendetwas
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