Schattengrund
Plauderei vor Mitternacht wohl aus. Vielleicht war sie noch einmal zum Pfarrer gelaufen? Leon erreichte die Kreuzung und blieb ratlos stehen. Auch der hatte nicht den Eindruck gemacht, zu Nicos besten neuen Freunden zu zählen.
Maik. Natürlich. Hatte er ihr nicht etwas über Vöglein und Kindlein und all solche Scherze erzählt? Wahrscheinlich hockten die beiden zusammen und dachten sich gerade neue Verschwörungstheorien aus. Maik … der Dorfnarr, auf den niemand gehört hatte. Alle hatten in ihrer Panik seine Hinweise ignoriert. Er hatte Fili gefunden. Zu spät, viel zu spät. Aber … Woher hatte er gewusst, wo Fili war?
Leons Magen sackte durch wie ein Fahrstuhl im freien Fall. Mit einem Schlag war er sauer auf Nico. Stinksauer. Oder war es Eifersucht? Quatsch. Sollte sie doch ihren letzten Abend in Siebenlehen verbringen, mit wem sie wollte.
Er ging weiter, blieb aber nach ein paar Schritten ratlos stehen. Etwas in ihm sträubte sich, sie ihrem Dickkopf zu überlassen. Ihm war nicht wohl bei dem Gedanken, sie um diese Uhrzeit alleine bei einem Mann zu wissen, der zwar harmlos war, aber mit Sicherheit nicht alle Tassen im Schrank hatte. Und wieder kehrte sein Gedanke zurück: Woher hatte Maik gewusst, wo Fili war?
Er bog links in die leere, zugeschneite Straße Richtung Altenbrunn. Ohne das Auto seines Vaters, das sie gleich morgen früh ausgraben würden, zog sich sogar die Strecke durch dieses Winzkaff ins Unendliche. Der Nachthimmel lag wie eine bleierne Decke über dem Hochtal, kein Stern schimmerte durch die dichte Wolkendecke. Ab und zu riss der Wind ein Loch in dieses bleierne Grau, doch genauso schnell verschwand es auch wieder. Die Zeichen standen auf Sturm. Der Schnee, vor einigen Stunden noch flockig und leicht, hatte sich in spitze Eiskristalle verwandelt, die wie Nadeln auf der Haut stachen. Seine Augen tränten. Er versuchte, durch die Nase zu atmen, und als ihm das nicht mehr gelang, legte er sich seinen Schal vor den Mund.
Endlich hatte er das Haus der Krischeks erreicht. Die Garage war verschlossen, aber durch die Ritzen einer billigen Jalousie im Erdgeschoss schimmerte blaues Licht. Ein Fernseher. Also war jemand zu Hause.
Leon klingelte. Das Geräusch war schrill und laut, vermutlich hatten die Krischeks es extra so eingestellt, um späte Kunden nicht zu überhören. Leon warf einen schnellen Blick auf seine Armbanduhr. Kurz nach halb elf. Selbst für solche Kunden war das zu spät. Er klingelte noch mal und noch mal. Endlich, als er schon glaubte, dass gar nichts mehr geschehen würde, hörte er schlurfende Schritte im Hausflur. Die Tür wurde geöffnet, aber nur so weit, dass Leon von der kleinen, irgendwie verhutzelten Frau dahinter genau gescannt werden konnte.
»Frau Krischek? Ich bin Leon Urban. Ich suche Nico … also, ein junges Mädchen. Ist sie vielleicht bei Maik?«
Frau Krischek war über die Frage so verblüfft, dass sie die Tür freigab. Leon trat ein und wurde umfangen von einem atemberaubenden Geruch nach Kohl, angebrannten Frikadellen und alten Socken. Am liebsten hätte er auf der Stelle kehrtgemacht. Aus dem Wohnzimmer schepperte ein Krimidialog in kurzen, abgehackten Sätzen, untermalt von dramatischer Musik.
»Maik?« Er schrie beinahe, denn die alte Frau schien schwerhörig zu sein.
»Maik is oben«, nuschelte sie.
Leon warf einen fragenden Blick in Richtung Treppe, Frau Krischek nickte. Noch während er hinauflief, hatte sie die Tür zum Wohnzimmer schon wieder hinter sich geschlossen.
Der erste Stock des 60er-Jahre-Baus hatte den üblichen engen Flur und mehrere Türen aus furniertem Sperrholz. An einer hing ein Plakat vom Nürburgring. Leon folgerte, dass sie wohl die zu Maiks Zimmer sein würde. Doch auch hier kam auf sein Klopfen keine Reaktion. Ein Bild entstand vor seinem inneren Auge. Maik und Nico bei … was auch immer. Ohne zu überlegen, riss er die Tür auf.
Das Zimmer war leer. Ein ungemachtes Bett, weitere Rennfahrerposter darüber. In den Regalen stand alles – Autobatterien, Kanister, ausgebaute Radios, aber keine Bücher. Der Schreibtisch war übersät mit Sportillustrierten, die Leon ungewollt ein flüchtiges Lächeln abrangen. Maik hatte nie besonders sportlich auf ihn gewirkt. Leon drehte sich um und wollte den Raum verlassen, da knirschte es unter seinen Stiefeln.
Glas.
Er trat einen Schritt zurück. Er war auf ein winziges Glasauge getreten. Vorsichtig hob er es auf und betrachtete, was davon übrig geblieben war. Klein, braun,
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