Schattengrund
Lumpen oder mit Fellen, und Kinder mit schwarzen Gesichtern und Kohle überall. Welche mit zerrissenen Hosen und Kopftüchern und so. Eins hat eine Kiepe, mit der musste es immer barfuss über den Berg, um Ziegenfutter zu holen. Und wieder eins hat noch die Hacke in der Hand, mit der es ins Bergwerk geschickt worden ist. Ein paar sehen auch ganz verhungert und erfroren aus.«
Nico und Leon wechselten einen schnellen Blick. Was Maik gerade stammelnd erzählte, waren die seit Jahrhunderten, wenn nicht Jahrtausenden ewig gleichen Schicksale von zu Tode geschundenen Kindern, die Armut, Hunger, Not und Willkür wehrlos ausgesetzt gewesen waren. Woher wusste er davon? Hatte er es auf den verwitterten Inschriften der Grabkreuze gelesen oder das Flüstern alter Frauen belauscht, die sich grausame Geschichten erzählten?
»Und die siehst du?«, fragte Nico.
Maik hob die Schultern, als ob er sich das selbst fragen würde. »Manchmal. Es heißt ja immer, die sind ins silberne Grab. Ist eine Geschichte, die man sich nicht mehr erzählen darf, weil die Kindlein sonst weggehen und nie mehr wiederkommen.«
»Woher weißt du von der Geschichte?«
»Von meiner Mutter. Und die hat sie von ihrer Mutter. Als ich klein war, hat sie immer gesagt, sie schickt mich dahin, wenn ich nicht brav bin.«
Nico merkte, dass Leon näher an sie herangetreten war. »Deine Mutter hat dir solche Schauergeschichten erzählt?«
Maik nickte unsicher. Ihm war nicht wohl dabei. Er wollte seine Mutter nicht schlechtmachen, aber irgendwo in seinem Kopf begriff er, dass diese Geschichte eine Menge Unheil angerichtet hatte.
»Und Fili hatte sie von dir?«
Maik nickte. Tränen traten in sein eines Auge. Er blinzelte und wandte sich ab.
Leon legte seinen Arm um Nicos Schulter. Sie hob ihr Gesicht zu ihm und hatte eine wahnsinnige Sehnsucht, ihn zu küssen. Richtig. Voller Hingabe. Aber stattdessen sagte sie: »Und Fili ist damit zu Kiana gegangen, die uns natürlich eine Soft-Version des Ganzen aufgetischt hat.«
»Die Geschichte vom silbernen Ritter, der hier oben seine schützende Hand über all die Kinder legt, die verloren sind«, ergänzte Leon.
»Verloren.« Nico löste sich sanft aus seiner Umarmung. »Lass uns nachsehen. Ich will wenigstens die Seele eines dieser Kinder retten. Fili ist tot. Aber der Schuldige muss gefunden und bestraft werden. Darum sind wir doch hier.«
Leon kämpfte mit sich. Schließlich nickte er.
»In Ordnung. Aber lass mich vorgehen.«
Er lief los. Nico folgte ihm und als Schlusslicht trottete Maik hinter ihnen her. Nico brach fast das Herz, wenn sie daran dachte, wie man ihn als Kind eingeschüchtert hatte.
»Warum bist du damals eigentlich hier hochgekommen, wenn das silberne Grab so schrecklich war?«
»Hab mich beim Beerensammeln verlaufen. Und wusste den Weg nicht zurück. Und als es dunkel wurde, bin ich hier rein. So kam das.«
Ja, dachte Nico, so kam das. Der Junge versteckte sich, wurde verschüttet, keiner vermisste ihn so richtig, und seitdem war er nicht mehr ganz richtig im Kopf.
»Und wer hat dich so zugerichtet?«
»Weiß ich nich. Habs nich gesehen. Kam von hinten, bumm.«
Bumm. Fast wäre sie in Leon hineingelaufen, der abrupt stehen geblieben war und sorgfältig den Boden ableuchtete.
»Meinst du die Stelle hier?« Er wies auf die zertretene Brotbox.
»Ja, aber noch ein Stück weiter.«
Wie ein Indianer auf dem Kriegspfad setzte Leon seine Suche fort. Etwa fünfzig Meter weiter wurde er fündig. Nico, die ihm aufgeregt gefolgt war und nicht aus den Augen ließ, was er beleuchtete, hielt die Luft an.
»Streichhölzer.«
Nico wandte sich an Maik. »War das hier?«
Ratlos kratzte sich der Riese am Hinterkopf. In diesem Licht sah er gemeingefährlich aus. Er braucht einen Arzt, dachte Nico, so schnell wie möglich.
»Ich denk schon.«
Leon ging in die Hocke. Er beleuchtete den gegenüberliegenden Felsen und hob die andere Hand, um sanft über etwas zu fahren, das Nico nicht erkennen konnte. Sie ging zu ihm. Auf dem Boden lag ein angekokelter gelber Buntstift, mit dem Fili mit letzter Kraft etwas auf die Wand gemalt haben musste.
Es war fast die gleiche Zeichnung wie auf den Blättern aus Kianas Märchenbuch. Nur gröber, wie mit Holzkohle gezeichnet. Ein Bett, ein Kind darin, davor ein schwarzer Schatten. Und darüber vier Buchstaben.
»Ich kann es nicht glauben«, flüsterte Leon.
Er zitterte so stark, dass er die Taschenlampe sinken lassen musste. Vier Buchstaben, die alles, aber auch
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