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Schattengrund

Schattengrund

Titel: Schattengrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Herrmann
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sie ihn nicht aus Versehen berühren würde. Sie stellte ihren Teller auf dem Couchtisch ab und klappte Kianas Buch an einer beliebigen Stelle auf.
    » A storytellers night. « Er schmunzelte. »Das hatte ich schon lange nicht mehr.«
    Kianas Handschrift war klar und deutlich zu lesen, und so begann sie mit einem Märchen, das sie schon längst vergessen hatte, das ihr aber Satz für Satz entgegenkam wie ein Freund mit ausgestreckter Hand.

Vierzehn
    Nico und das Ross des Teufels
    Es war im Jahre 1347 des Herren Fleischwerdung, und es geschah am Abend der Withe Naht, als kurz nach Einbruch der Dämmerung eine knochige Hand an die Tür des Schmieds von Thale klopfte. Die Familie des braven Mannes hatte sich bereits auf dem Lager zur Nacht gebettet – Reinbrecht war sein Name, und Vrena hieß sein angetrautes Weib, die Kinder Ulrich, Nico und Heinzo. Nico trug das kleine Kreuz ihrer Schwester Helwig, vom Vater für das Kind aus einem Nagel geschmiedet und Helwigs liebster Schatz, als sie noch lebte.
    »So eins hatte ich mal!«, rief Nico verblüfft. »Ein kleines Eisenkreuz, aus zwei Nägeln geschmiedet. Ich glaube, das war die Idee zu dem Märchen. Kiana hat immer irgendwelche Dinge oder Erlebnisse in der Realität zum Anlass genommen, um damit ihre Geschichten zu beginnen.«
    »Wo ist es jetzt?«, fragte Leon und schleckte seinen Löffel ab.
    »Ich weiß es nicht. Verloren. Hast du noch Sachen von früher? Ganz früher, meine ich.«
    Er kniff die Augen zusammen und dachte nach. »Meine ersten Comics. Und einen Dinosaurier aus Kunststoff, dem ich nach einem grausamen Kampf Mensch gegen Bestie den Schwanz abgebissen habe. Wie geht’s weiter?«
    »Gruselig«, antwortete Nico. »Aber auch schön. Kiana hatte eine unglaubliche Fantasie. Ich habe jeden Abend zitternd unter der Bettdecke gelegen. Aber gleichzeitig hatten ihre Märchen auch etwas Zartes, Poetisches. Sie hat alles zum Guten gewendet. Immer. Zum Schluss bin ich jedes Mal total glücklich eingeschlafen.«
    »Mal sehen, ob mir das heute auch gelingt«, sagte Leon.
    Warum machte er das? Immer so zweideutige Sachen sagen? Oder interpretierte sie einfach viel zu viel hinein? Nico holte tief Luft und las weiter.
    Gott hatte Helwig vor vier Wochen zu sich genommen. Sie lag noch immer bleich und schön wie ein Engel in der Gruft neben der kleinen Kirche. Es war zu kalt, sie zu bestatten. Die Gräber, die sie hier oben im Herbst aushoben, reichten in diesem strengen Winter nicht. Zu bitter war die Kälte und zu hoch der frühe Schnee, der Tal und Höhen seit Wochen vom Strom der Pilger und Händler abgeschnitten hatte.
    Die Mutter hatte dem toten Kind das Kreuz abgenommen – aus Angst, dass Leichenschänder den kleinen Schatz entwenden würden. Bis zur Grablegung bewahrte Nico es über ihrem Herzen auf. Manchmal tastete sie nach dem kleinen Anhänger. Dann sah sie Helwig vor sich, wie sie über die Wiese lief und die Ziegen zusammentrieb. Und wenn der Wind durch die zugigen Bretter der Hütte pfiff, klang es manchmal, als würde eine dünne Frauenstimme weit entfernt singen …
    »Hammer. Solche Sachen hat dir deine Tante erzählt?« Leon vergaß für einen Moment sein Eis. »Oh Mann. Tote Kinder ohne Grab. Also mich hättest du damit jagen können.«
    Nico lächelte. »Ich wusste gar nicht, dass du so zartbesaitet bist.«
    »Du weißt vieles nicht von mir«, antwortete er mit Grabesstimme. »Lies weiter. Jetzt kommt bestimmt Gevatter Tod und will die süße Nico holen.«
    »Wart’s ab.« Sie schlug die Seite um.
    Wieder klopfte es. Die Hütte war dunkel, doch das Mondlicht drang in dünnen Streifen durch die Ritzen. Die Luft roch schwer vom Nachtschweiß der Menschen und Tiere. Nico setzte sich auf und berührte den Arm der Mutter. Sie schlief. Heinzo, der kleine Bruder mit den rosigen Wangen, lag mit halb geöffnetem Mund an der Mutter Brust. Der Vater schnarchte laut auf und drehte sich auf die andere Seite, wobei er Ulrich beinahe unter sich begrub, der im Schlaf strampelnd und schnaufend einen neuen Platz auf dem engen Lager suchte.
    Nico stand auf, stieg über die Ziegen und ihren Wurf und schob mit dem Fuß die Henne zur Seite. Sie wunderte sich, dass auch die Tiere kaum reagierten. Vorsichtig hob sie den Riegel und lugte durch den Türspalt nach draußen.
    Tief unter der Kapuze seines weiten schwarzen Umhangs verborgen stand ein Mann im Schnee. Er war groß und musste sehr hager sein. In der Rechten trug er einen knotigen Wanderstab, mit der Linken hielt er

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