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Schattengrund

Schattengrund

Titel: Schattengrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Herrmann
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einmal aufzubrechen und es zu wagen. Das Leben. Wenn ich mir einen Leitspruch für mein Wappen aussuchen dürfte, dann würde er lauten: Etwas Besseres als den Tod finden wir überall.«
    »Und auf deinem Wappen sind Esel, Katze, Hund und Hahn.«
    »Genau.«
    Leon gab seine entspannte Haltung auf und beugte sich vor. Minx drehte sich auf den Rücken, streckte den Bauch in die Luft und sah ihn erstaunt an.
    »Ich würde heute Nacht gerne hierbleiben.«
    »Ähm … was?« Sie glaubte, sie hätte ihn nicht richtig verstanden. Hierbleiben? Wie um Himmels willen meinte er das?
    »Gib mir eine Decke und ich lege mich auf die Couch.«
    »Ich weiß nicht. Ist das wirklich nötig?«
    »Keine Ahnung. Das weiß man immer erst hinterher.«
    »Hinterher von was?« Nico schlug das Buch zu und legte es auf einem Gestell ab, das eine Mischung aus Blumentopfhalter und Gießkannenablage gewesen sein musste, zumindest so lange, wie es in diesem Haus Blumentöpfe gegeben hatte. Leon hob die Arme über den Kopf, reckte sich und gähnte.
    »Ich weiß nicht. Ist nur so ein Gefühl«, antwortete er nur. »Du kannst mich natürlich rausschmeißen. Aber ich werde den Weg zurück zum Schwarzen Hirschen nicht mehr finden und mich verirren. Willst du schuld an meinem ach so frühen Erbleichen sein? Mit hohler dünner Stimme klagend wird mein Geist durch eisige Winternächte ziehen … Ich könnte dir auch noch ein Märchen vorm Einschlafen erzählen.«
    Nico lachte. »Ich hol dir was.«
    Sie lief die Treppe hoch in Kianas Zimmer und raffte Überdecke und Bettzeug zusammen. Dann schnappte sie noch ein Kopfkissen und kämpfte sich schwer bepackt zurück ins Wohnzimmer. Leon stand wieder am Fenster. Er hatte die Vorhänge zugezogen und beobachtete durch einen schmalen Spalt die Straße. Es sah aus, als ob er nicht gesehen werden wollte.
    »Alles okay?«, fragte Nico.
    Leon nickte.

Fünfzehn
    Nico wurde wach, weil Minx die Kuhle am Fußende ihres Bettes verlassen hatte und ihr maunzend übers Gesicht leckte. Unwillig stieß sie die Katze fort, aber sie kam zurück und stupste Nico mit ihrer kalten Nase an.
    »Lass das.«
    Die Antwort war ein böses Fauchen. Der Begriff Katzenklo, mehr aber noch das Fehlen dieses nützlichen Gegenstandes geisterte durch Nicos Unterbewusstsein. Schlaftrunken stand sie auf und öffnete die Tür. Minx rannte ins Treppenhaus und wartete. Nico knallte die Tür zu und taumelte zurück ins Bett.
    Damit hatte sie Minx’ Problem wohl nur verlagert, aber nicht gelöst. Bevor sie den Gedanken vertiefen konnte, war sie schon wieder am Einschlafen. Sie hörte noch den Wind übers Dach streichen und ein Knarren, so als ob sich zwei Bäume, ächzend unter der Last des Alters, aneinanderrieben. Der Schrei einer Eule oder eines Käuzchens. Ein Scharren wie von trockenen Ästen, die mit dürren Fingern über die Schindeln kratzen. Ein leises Glockenspiel. Aus den Wänden und Ritzen ein Duft, schwer und süß, Harz und Holz.
    Sie kannte ihn. Sie wusste nur nicht mehr, wo sie ihn schon einmal gerochen hatte. Mit jedem Atemzug wurde er stärker. Sie blinzelte und drehte sich auf die andere Seite. Das Mädchen lächelte sie an.
    Es stand in der Ecke des Zimmers neben der Tür, zart und durchsichtig wie ein Geist, und Nico wusste, dass sie träumte. Sie spürte keine Angst. Noch nicht einmal Verwunderung. Sie war einfach nur erstaunt. Es war ein Kind. Es trug Fäustlinge aus weißer Wolle, einen hellen Anorak mit einer fellbesetzten Kapuze und dicke Skihosen. Die Kapuze war hochgezogen, als ob es gerade aus der Kälte kam oder gleich hinauswollte. Ein paar zerzauste blonde Haarsträhnen fielen ihm ins Gesicht. Es hatte schmale Wangen, riesige grüne Augen, Sommersprossen und eine Stupsnase. Die Kleidung wirkte verblichen, so wie die alten Fotos im Schwarzen Hirschen. Nicos Blick wanderte zu den kleinen Füßen des Kindes. Sie steckten in gefütterten blassroten Stiefeln.
    »Hallo«, sagte das Mädchen. »Weißt du, wo mein Besen ist?«
    Nico setzte sich auf. Sie wusste, dass das alles gar nicht geschah. Trotzdem wunderte sie sich, dass sie den Mund aufmachen und sprechen konnte.
    »Ich glaube, der steht in der Küche.«
    »Danke. Ich guck mal.«
    Das Kind ging wie ein Geist durch die verschlossene Tür und verschwand. Nico ließ sich aufs Bett fallen und starrte dorthin, wo sie in der fast absoluten Dunkelheit die Decke vermutete.
    Wow. Was passiert hier eigentlich mit mir?, dachte sie. Schlaf am besten weiter und denke nicht zu viel

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