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Schattengrund

Schattengrund

Titel: Schattengrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Herrmann
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Silbererz.«
    »Das silberne Grab«, flüsterte Nico.
    Er gab ihr den Stein zurück. »Es mag ja viele Stollen geben, in denen Bergleute verunglückt sind. Aber ein Grab würde ich das alte Mundloch da nicht nennen.«
    »Ein Mundloch?«
    »Der Eingang zu einem Stollen. Genauer gesagt, einem ganzen Geflecht, das keiner mehr so ganz durchblickt. Wie ein Labyrinth soll es angeblich sein. An manchen Stellen bricht die Decke ein, deshalb ist ein Teil der ganz alten Wanderwege da oben auch gesperrt. Stell dir vor, wir laufen nebeneinander, und auf einmal – bin ich weg?« Er riss die Augen in gespieltem Erstaunen auf und wartete auf eine Antwort.
    »Nicht gut?«, fragte Nico verunsichert.
    Genauso übertrieben seufzte Leon jetzt. »Nicht gut. Wenn das deine einzige Reaktion auf mein Ableben ist …«
    Mit einem Grinsen, das Nico vollends aus dem Takt brachte, ging er zum Ofen, schürte die Glut und legte noch zwei Briketts nach. Dann setzte er sich in einen der uralten, potthässlichen Sessel, die für Kiana wohl einmal modern gewesen sein mussten. Nico nahm ihm gegenüber Platz und zog die Knie hoch – ein bisschen verschanzen gegen seinen merkwürdigen Humor war vielleicht gar nicht schlecht.
    »Es gibt eine Menge Sagen und Legenden um den Berg von Siebenlehen und den Harz überhaupt«, sagte sie. »Das dunkle Herz Deutschlands. Märchenland. Düsterwald. Kobolde, die Gold schürfen. Diamantene Höhlen. Silberne Brücken, die Schluchten und Abgründe überspannen und nur alle hundert Jahre einmal auftauchen. Kinder, die im Berg verschwunden sind und alle Jubeljahre als Geister wieder auftauchen.«
    »Erzähl weiter.«
    »Du magst Märchen?«
    Nico griff sich das Buch mit Kianas Schlafgeschichten vom Couchtisch und blätterte darin herum.
    »Meine Großtante hat sich immer welche ausgedacht, die hier in der Gegend spielen. Die hat sie mir vor dem Schlafengehen erzählt und hier drin aufgeschrieben. Die Heldin war immer ein kleines Mädchen mit braunen langen Haaren.«
    »Lass mich raten – es hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit dir?«
    Nico grinste. Das Buch hatte sich auf einer Seite geöffnet, auf der ein Feuer speiendes Pferd über die Bergwipfel ritt.
    »Ja. Sie sollten Mut machen. Ich glaube, ich habe als Kind nicht gerade vor Selbstbewusstsein gestrotzt. Ich war ziemlich schüchtern.«
    »Kaum zu glauben«, witzelte Leon.
    Nico spürte, wie ihre Wangen wieder anfingen zu brennen. Hielt er sie für verklemmt, oder wie? Aber es stimmte schon: Normalerweise war es schwierig für sie, unbefangen mit anderen in Kontakt zu kommen. Nur bei Leon war irgendwie alles anders. Mal fühlte sie sich in seiner Nähe so locker, als würden sie sich schon seit Jahren kennen, und dann wieder machte sie schon die Art, wie er dasaß, nervös. Schlaksig, völlig entspannt, die langen Beine ausgestreckt und den Kopf auf die rechte Hand gestützt. Am liebsten hätte Nico ihn so gemalt. Sie wünschte sich, einen Pinsel in der Hand zu halten. Oder einfach nur Stifte. Dieses Gefühl hatte sie lange nicht mehr gespürt.
    »Ja«, flüsterte sie. »Kaum zu glauben.«
    »Lies mir eine vor.«
    »Was? Jetzt?«
    »Nein. Erst will ich ein Eis.«
    »Äh, klar, ja. Warte.«
    Sie sprang auf und lief in die Küche. Den Eisbecher hatte er vors Fenster gestellt, er war immer noch steinhart gefroren. Sie hielt ihn sich an die Wangen, die wieder glühten, als ob sie Fieber hätte. Wie peinlich. Dieses Rotwerden und Herumstottern. Dabei konnten sie sich doch auch ohne jeden blöden Gedanken wunderbar unterhalten. Sie dachte an die Geschichte vom Schwarzen Hirschen und dass Leon in Siebenlehen wohl genauso ein Außenseiter war wie sie. Aber warum war er dann so locker und sie so durcheinander?
    Schließlich gab sie es auf, den Becher erwärmen zu wollen. Sie hackte mehrere Stücke Stracciatella-Eis aus dem Block und richtete sie auf zwei Untertassen an. Als sie zurück ins Wohnzimmer kam, checkte Leon gerade das Fenster. Es war das einzige, das nicht verbarrikadiert war. Der Fensterladen musste irgendwann abhandengekommen sein. Es war stockdunkel und es schneite noch immer. Von Leons Van war ein sanfter weißer Hügel übrig geblieben.
    »Ich werde wohl noch eine Weile hierbleiben. Wenigstens, bis es aufgehört hat zu schneien.«
    Nico wusste nicht, was sie sagen sollte. Am besten tat sie einfach so, als ob sie sich genauso wenig Gedanken um die Situation machen würde wie er. Sie reichte ihm das Eis. Beide setzten sich wieder. Nico zog die Beine an, damit

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