Schattengrund
darüber nach. Sie dämmerte hinüber in eine Art Halbschlaf. Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als ein Lufthauch über ihr Gesicht strich. So zart, als ob sich jemand über sie beugte und atmete.
»Es ist hier«, flüsterte eine Stimme.
»Was?«
»Das Böse.«
»Dann bleib bei mir.«
»Ich kann nicht … Gib acht, ja? Gibt auf dich acht! Der schwarze Mann …«
Der Lufthauch verschwand. Nico wollte sich bewegen, aber eine lähmende Müdigkeit hielt sie umfangen. Sie konnte sich nicht mehr rühren, das Atmen fiel ihr schwer. Etwas lag in der Luft, das in sie hineinkroch und ihr jede Kraft, jeden Willen nahm. Sie wusste, dass sie Angst haben sollte, aber noch nicht einmal das gelang ihr.
Sie wollte das Mädchen rufen, aber ihr fiel sein Name nicht mehr ein. Vielleicht war es auch gar nicht mehr wichtig. Sie wusste, sie würden sich bald treffen. Irgendwo da draußen in einem alten Stollen, dem silbernen Grab. Ein Teil von ihr stand auf und ging ebenfalls durch die Tür. Sie sah das Kind am Fuß der Treppe. Es drehte sich um und blickte zu ihr hoch.
Der andere, weitaus schwerere Teil blieb liegen.
»Wann kommst du?«, fragte das Mädchen.
In Nico erwachte eine unendliche, noch nie so tief gefühlte Trauer.
»Ich weiß nicht«, flüsterte sie.
»Ich warte auf dich.« Das Mädchen ging durch die Hauswand und war verschwunden.
»Wach auf!«
Jemand rüttelte sie. Nico lag da wie gelähmt. Sie hörte ein Klatschen und spürte den brennenden Schmerz auf ihrer Wange, aber sie konnte nichts tun. Die Trauer hatte sie mit schwarzen Schleiern gefesselt.
»Nico! Du musst hier raus! Sofort!«
Ein Klirren, ein dumpfer Schlag. Das musste das Fenster sein. Die oberen Stockwerke hatten keine Läden, sodass die kalte Luft augenblicklich ins Zimmer strömte. Nico atmete tief ein und begann zu husten.
»Komm hoch. Los! Nun mach schon! Nico!«
Wer rief da so verzweifelt ihren Namen? Wer zerrte sie aus dem Bett, hob sie hoch, schleifte sie durchs Zimmer, stolperte über einen verrutschten Flickenteppich, fluchte, schrie, schüttelte sie, schlug ihr wieder und wieder ins Gesicht?
»Was … Was ist los?«
»Atme. Atme!«
Sie zog tief die Luft ein, weil es zu diesem Befehl keine Alternative gab. Wieder hustete sie. Die Brust tat ihr weh, als ob ein Gebirge daraufgelegen hätte. Die Kehle brannte und aus ihren Augen liefen Tränen. Die schwarzen Schleier zerrissen.
Leon ließ sie los. Nico taumelte und konnte sich mit letzter Kraft am Fensterbrett festhalten. Das Licht ging an, aber sie konnte kaum etwas erkennen. Das ganze Zimmer war voller Rauch. Leon knallte die Ofenklappe neben dem Schrank zu und kam zu ihr zurück. Er beugte sich aus dem Fenster und holte tief Luft.
»Verdammte Scheiße! Wann war der Schornsteinfeger zum letzten Mal hier?«
»Das weiß ich doch nicht«, krächzte sie. Ihr war schlecht. Am liebsten hätte sie gleich aus dem Fenster gekotzt. »Was ist denn passiert?«
»Ich bin wach geworden, weil deine Katze einen irrsinnigen Tanz auf meinem Gesicht veranstaltet hat. Der Abzug ist verstopft. Die ganze Bude ist voller Rauch. Noch ein paar Minuten länger und du wärst tot!«
Sie begriff nicht. Warum regte er sich so auf? Alte Häuser hatten eben alte Kamine …
»Kohlenmonoxyd. Mein Gott. Das ist ja lebensgefährlich hier!«
Nico schwankte zur Tür und schleppte sich die Treppe hinunter. Vorder- und Hintereingang standen sperrangelweit offen. Obwohl der Luftzug schon eine Menge Rauch aus dem Haus geweht haben musste, biss der Rest immer noch in Nicos Augen.
Leon folgte ihr. Im Flur hatte er schon seinen Anorak an und hielt die Taschenlampe in der Hand.
»Ich muss aufs Dach.«
Nico rang nach Luft, aber er achtete nicht auf sie und stürzte hinaus. Sie wankte wie eine Betrunkene in die Küche, beugte sich über das Becken und würgte. Glücklicherweise kam nichts heraus. Sie ließ kaltes Wasser laufen, sammelte es in der hohlen Hand und schlug es sich immer wieder ins Gesicht. So lange, bis sie das Gefühl hatte, wieder wacher zu sein und klarer denken zu können.
Ein lautes Schaben an der Hauswand verriet ihr, dass Leon die Leiter anlehnte und aufs Dach kletterte. Sie trug einen Flanellpyjama, ein Sweatshirt und dicke Socken, das musste reichen. Sie schlüpfte in ihre Stiefel, nahm Jacke und Schal vom Küchenstuhl und eilte hinaus.
Es hatte aufgehört zu schneien. Die Morgendämmerung sandte bereits ein fahles Licht über die Gipfel der Berge. Der Mond verblasste zu einer Sichel,
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