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Schattengrund

Schattengrund

Titel: Schattengrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Herrmann
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die schweren Wolken waren weitergezogen. In der ersten Ahnung von Helligkeit erkannte sie Fußspuren im Schnee, die nicht von Leon stammten.
    Hier ist ja eine Menge los nachts, dachte sie.
    Nico bog um die Ecke und geriet in eine mittlere Dachlawine, die Leon losgetreten haben musste. Prustend wischte sie sich den Schnee aus dem Gesicht. Ein Lichtkegel tanzte über den First. Es sah verdammt gefährlich aus.
    »Kann ich dir helfen?«, schrie sie.
    »Ich brauche eine Harke! Hast du so was?«
    »Moment!« Sie rannte hinüber zum Schuppen und tastete in fliegender Hast nach den Gartengeräten. Sie konnte in der Dunkelheit kaum etwas sehen, aber sie erinnerte sich noch vage, wo was gestanden hatte. Die Angst streifte sie wie ein Eishauch. Was, wenn der Unbekannte sich hier versteckt hatte? Wenn er sich entdeckt fühlte? In die Enge getrieben? Wenn er sich auf sie stürzen würde? Sie merkte, dass sie die Kontrolle verlor. Sie begann am ganzen Körper zu zittern und wagte nicht, die Hand auszustrecken.
    »Nico?«
    Leon war so weit weg. Er würde ihr nicht helfen können … Jemand berührte ihren Arm. Sacht und sanft, fast wie ein Streicheln. Ihr Blut gefror zu Eis, die Angst kristallisierte in ihren Adern. Sie stand da und konnte sich nicht mehr rühren. Die Berührung glitt ihren Arm hinunter. Etwas Hölzernes fiel zu Boden. Es war die Harke, die an der Wand gelehnt hatte und die Nico aus Versehen umgeworfen haben musste. Sie wartete, bis sie sich wieder unter Kontrolle hatte und die Erleichterung ihren Körper auftaute.
    »Hab sie!«
    Triumphierend kehrte sie zurück und kletterte die Leiter hoch bis zur Dachrinne. Leon hielt sich an einem uralten Antennenmast fest und streckte sich ihr entgegen. Sie schob die Harke so weit in seine Richtung, wie sie konnte. Wieder löste sich ein Schneebrett und sauste in die Tiefe.
    »Pass auf, Nico! Halt dich fest!«
    Die Leiter geriet in Bewegung und rutschte ihr unter den Füßen ab nach rechts. Sie ließ die Harke los und klammerte sich an die Dachrinne. Im letzten Moment konnte sie ihre wackelige Stütze stabilisieren. Sie schielte nach unten. Fünf, sechs Meter waren es bestimmt. Der einzige Trost war, dass der Schnee den Aufprall gemildert hätte.
    Sie hangelte sich mit der Leiter wie ein Stelzenläufer wieder zurück in die Ausgangsposition, tastete nach der Harke und schob sie vorsichtig in Richtung Leon. Zwanzig Zentimeter. Fünfzehn Zentimeter. Endlich erwischte er das Ende des Stils und zog ihn zu sich heran.
    Er kletterte zurück auf den Dachfirst, schwindelfrei und sicher, als ob er tagtäglich auf verschneiten Dächern herumturnte, und robbte sich an den Schornstein heran. Kurz vor dem gemauerten Viereck kam er auf die Beine und leuchtete mit der Taschenlampe in die Öffnung.
    »Da ist was drin!«
    Nico klapperte mit den Zähnen. Hier oben pfiff der Wind noch einmal ein paar Zacken schärfer. Ihre Pyjamahose war zu dünn. Außerdem hatte sie ihre Handschuhe vergessen. Die Finger wurden taub. Lange würde sie die Kälte nicht mehr aushalten. Sie wickelte ihre Hände in die Enden des Schals und sah hinunter nach Siebenlehen. Verträumt lag das Dorf in seinem Tal, die Häuser erinnerten sie an eine schlafende Herde. Nur in manchen Fenstern brannte Licht. Wer war an einem Sonntagmorgen so früh schon wach?
    Eine Glocke läutete. Nico zählte die Schläge: sechs. Sie suchte den dazugehörigen Turm und fand ihn, ein Stück weit hinter der Kreuzung, neben einer kleinen Kirche. Vage erinnerte sie sich, dass sie in Leons Van an ihr vorbeigefahren war. Vom Wohnzimmerfenster aus hatte man sie nicht sehen können. Und bei ihrem bisher einzigen Ausflug ins Dorf war sie gar nicht so weit gekommen.
    »Und? Kriegst du es raus? – Leon!«
    Er rutschte ab. Nicos Herz blieb stehen. In letzter Sekunde konnte er sich am Schornstein festhalten, aber seine Füße scharrten über die Schräge und glitten immer wieder weg.
    »Leon!«, schrie sie.
    Unter Auferbietung all seiner Kräfte zog er sich hoch. Fast hatte er es geschafft, als ein Ziegel herausbrach und polternd hinunterfiel. Sie hörte Leon fluchen wie einen Kutscherknecht. Seine Hand tastete über den Rand des Schornsteins und fand Halt. Wieder zog er sich nach oben, vorsichtiger dieses Mal, weil keiner wusste, ob das alte Mauerwerk dieser Belastung standhielt. Endlich hatte er es geschafft und richtete sich auf.
    »Ist alles in Ordnung?«
    »Ja«, rief er zurück. »Aber das bröckelt ja schon beim Hinsehen!«
    Er tastete nach der

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