Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schattengrund

Schattengrund

Titel: Schattengrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Herrmann
Vom Netzwerk:
noch die eine oder andere besonders scheußliche Todesart, die diese Menschen vom Leben in den Tod und anschließend in den unverrückbaren Heiligenstand befördert hatte. Nicos Namenspatron war Nikolaus. Schutzpatron von Dieben und Juristen – eine Kombination, die bei ihrem Vater immer große Heiterkeit ausgelöst hatte, – aber auch der Liebenden und der Kinder.
    Je mehr sie darüber nachdachte, desto weniger kam sie auf einen Zusammenhang. Die Wachspuppe und das Mädchen aus ihrem Traum waren Zufälle. Vielleicht war ihr das Foto im Schwarzen Hirschen bis in den Traum gefolgt. Dann träume ich heute Nacht wohl von Holzfällern und Bierfässern, dachte sie, während sie Siebenlehen hinter sich ließ.
    Schon von Weitem bemerkte sie, dass etwas nicht stimmte. Die Eingangstür des Hauses stand sperrangelweit offen. Nico begann zu rennen, aber das war im Neuschnee schwierig, und sie kam nur langsam voran. Endlich erreichte sie das Gartentor.
    »Leon? Minx?« Keuchend blieb sie stehen und lauschte. Nichts.
    Der Hexenbesen stand noch an die Hauswand gelehnt. Jeder, der sie damit sah, würde sich totlachen. Auch eine Art von Verteidigung. Langsam betrat sie das Haus.
    Es roch immer noch ein wenig nach Rauch und verbranntem Papier.
    »Hallo? Ist da jemand?«
    Auf dem Linoleum waren feuchte Stiefelabdrücke zu sehen. Sie erinnerten Nico an die Spuren im Schnee, die sie in der ersten Nacht gesehen hatte. Schattengrund schien ungebetene Besucher anzuziehen wie ein Magnet. Sie hob den Besen und lugte um die Ecke. Das Zimmer war leer. Das ganze Haus schien wie ausgestorben. Sie ging zurück und warf die Türe zu. Dann zog sie die Stiefel aus und umrundete vorsichtig die nassen Spuren.
    »Leon?«
    Die Enttäuschung war groß. Sie hatte geglaubt, er wäre noch da, wenn sie zurückkäme. Aber er war gegangen und hatte auch die Tür nicht richtig verschlossen. Wahrscheinlich waren es seine Abdrücke. Viel Auswahl an Schneeschuhen gab es in Siebenlehen wohl kaum.
    Sie stellte den Besen in die Ecke neben dem Holzkorb und warf sich aufs Sofa. Es war kühl. Wahrscheinlich, weil die Tür so lange offen gestanden hatte. Unwillig erhob sie sich wieder und öffnete die Ofenklappe, wie sie es bei Leon gesehen hatte. Mit dem Schürhaken stocherte sie in der restlichen Glut und wunderte sich über die viele Asche. So viel Papier. Ein angekohlter Buchdeckel. Sie stutzte, öffnete die Klappe und zog den Aschenkasten halb heraus.
    »Ich glaub es nicht!«
    Sie sprang auf und sah sich hilflos um. Sie suchte das ganze Zimmer ab, aber sie fand nicht, was sie suchte. Mit Tränen der Wut in den Augen kehrte sie zum Ofen zurück und gab dem Kasten einen Tritt. Der halbe Inhalt stob in die Luft und landete auf dem Fußboden.
    Jemand hatte Kianas Buch verbrannt.
    Am liebsten wäre sie sofort zum Schwarzen Hirschen gerannt und hätte Leon zur Rede gestellt. Was fiel ihm ein? Das Buch waren ihre Kindheitserinnerungen. Es war so kostbar, weil es das Gute und Schöne und Märchenhafte bewahrt hatte, das sie hier in Siebenlehen erlebt hatte. Das silberne Grab. Nico und das Ross des Teufels. Ein kleiner roter Stiefel auf dem Rest einer herausgerissenen Seite …
    Nico ließ sich in den Sessel sinken und weinte plötzlich hemmungslos. Die ganze Anspannung der letzten Tage, die Anfeindungen, der offene Hass, der ihr entgegenschlug, all das bahnte nun einer Flut von Tränen ihren Weg. Sie merkte gar nicht, dass Minx hereingeschlichen kam und zu ihr auf den Sessel sprang. Erst als eine raue kleine Zunge über ihre Wange schleckte, blinzelte sie.
    »Minx. Ach, Minx …«
    Die Katze stieß einen leisen Klagelaut aus, als ob sie mit ihr leiden würde. Nico musste gegen ihren Willen lächeln. Vorsichtig kletterte ihre kleine Mitbewohnerin auf ihren Schoß. Dort kringelte sie sich zusammen und ließ sich streicheln.
    »Hast du gesehen, was er getan hat?« Anklagend wies sie auf den Ofen. Minx richtete sich halb auf, schien aber zu bemerken, dass Nico keinesfalls etwas Fressbares meinte. »Er hat Kianas Märchenbuch verbrannt. Wie krank ist das denn? Gibt es in diesem ganzen Kaff eigentlich keinen einzigen normalen Menschen mehr? Das Schlimmste ist …«
    Eine neue Heulattacke packte sie. »Das Schlimmste«, schniefte sie, »ist, dass ich ihm vertraut habe. Verstehst du? Ich habe ihm vertraut! Er hätte doch nur zu sagen brauchen, dass die Geschichten ihm nicht gefallen. Stattdessen schleicht er sich hier ein und fragt mich aus und … und …«
    … und bringt mich

Weitere Kostenlose Bücher