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Schattengrund

Schattengrund

Titel: Schattengrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Herrmann
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hatte.
    »Ja, danke«, antwortete er zerstreut. Er nahm zwei Löffel und rührte eine Ewigkeit in seiner Tasse herum. Schließlich nahm er vorsichtig einen Schluck. Nico ließ ihn nicht aus den Augen. Wenn es ihm unangenehm war, ließ er es sich zumindest nicht anmerken.
    »Wer ist die heilige Barbara? Wer ist das Mädchen? Und was hat sie mit einem schwarzen Mann zu tun?«
    Der Pfarrer hustete, der Tee schwappte über. »Oh, Verzeihung. Ich habe mich verschluckt«, röchelte er. »Ein schwarzer Mann?«
    Nico hätte vor Wut am liebsten die Messerspitze in die Tischplatte gerammt. Wo war Leon? Er hätte dem Pfarrer erklären können, dass alles, was Nico erzählte, wirklich geschehen war. Gut, die Geschichte mit dem Mädchen, das sie im Traum vor einem schwarzen Mann warnte, klang vielleicht wirklich ein bisschen verrückt. Aber sie hing mit allem zusammen, das wusste sie. Das spürte sie.
    »Vergessen Sie’s. Ich will nur wissen, wen diese Wachsfigur darstellt, die den Leuten hier als Heilige verkauft wird.«
    »Sie ist die Heilige. Zumindest repräsentiert sie sie. Jede Heiligenfigur, jede Madonna, jeder Apostel ist doch nur ein Gleichnis. Oft haben sich die Künstler reale Vorbilder genommen. In der Renaissance trug meist der älteste der Heiligen Drei Könige die Züge des fürstlichen Auftraggebers. Bürgerliche Stifter wurden oft als Hirten oder Schäfer verewigt. ›Sicher ist es, dass die Gestalt eines schon längst Verstorbenen durch die Malerei ein langes Leben lebt‹, schrieb Leon Battista Alberti in seiner Schrift De Pictura Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts.«
    »Von mir aus. Wer ist sie?« wiederholte Nico.
    Resigniert setzte der Pfarrer die Tasse ab. »Das wissen Sie wirklich nicht?«
    Nico hielt den Atem an und antwortete leise: »Nein.«
    »Ihr Name war Philomenia Urban. Alle nannten sie Fili. Sie starb im Alter von sechs Jahren. Ihr Vater Zacharias hat die Statue gestiftet. Zur Erinnerung an den Tod seines einzigen Kindes.«
    »Wann?«, flüsterte Nico. »Wann starb sie?«
    »Vor fast genau zwölf Jahren.«
    Die letzten Winterferien bei Tante Kiana. Nico war danach krank gewesen. Sehr sehr krank. Sie war nicht mehr an ihre Schule zurückgekehrt. Sie waren umgezogen in eine andere Stadt und Nico wurde im darauffolgenden Sommer noch einmal eingeschult.
    »Woran ist sie gestorben?«
    Der Pfarrer legte seine Hand auf die ihre. Sie war warm und es ging etwas Tröstliches von dieser Berührung aus.
    »Sie ist erfroren. Oben am Berg, in einem alten Stollen.«
    Der Schreck drang wie ein Messer in ihren Leib. Nicos Kehle wurde eng. Sie fürchtete sich davor, diese Frage zu stellen, und sie war froh, dass es ein Pfarrer war, mit dem sie sprach.
    »Warum?«, brachte sie schließlich heraus. »Was habe ich damit zu tun?«
    »Sie wissen es nicht mehr?«
    »Nein!«, rief Nico. »Ich weiß es nicht! Und keiner scheint das zu glauben! Was ist passiert? Was hat sie da oben gemacht? Wie kommt ein kleines Kind im Winter hinauf auf den Berg? Allein?«
    Er drückte ihre Hand. »Sie war nicht allein. Sie waren bei ihr.«
    »Ich?« Entsetzt zog Nico ihre Hand zurück. Sie sprang auf und lief zum Fenster, zurück zur Spüle, hin und her, fuhr sich durch die Haare, versuchte, zu begreifen, was ihr gerade gesagt worden war.
    »Nein.« Sie blieb stehen und stützte die Hände auf die Lehne des Küchenstuhls. »Das ist eine Lüge. Sie wäre nicht gestorben, wenn ich bei ihr geblieben wäre.«
    Der Pfarrer sah auf die Tischplatte und sagte nichts. Langsam, ganz langsam zog Nico den Stuhl heran und setzte sich.
    »Ich …« Alles in ihr sträubte sich, diese Worte auszusprechen. Sie waren so furchtbar. So entsetzlich. Alles bekam plötzlich einen Sinn. All der Hass, der See aus Blut und Tränen. »Ich bin nicht bei ihr geblieben?«
    Er hob vorsichtig die Tasse. Seine Hand zitterte. Nico hätte es nicht für möglich gehalten, dass ihn diese Geschichte auch so mitnahm.
    »Sie waren Kinder. Sie sind fortgelaufen, mit den Besen hat man Sie noch gesehen, wie Sie in den Wald gegangen sind und nicht mehr wiederkamen. Sie, Nico, hatten Fili an der Hand. Sie gingen voraus.«
    »Nein«, flüsterte Nico. »Nein.«
    »Dann kam der Schnee. Es war fast so ein Wetter wie jetzt. Ein Blizzard. Ein Schneesturm. Wahrscheinlich haben Sie sich verirrt und wollten Hilfe holen.«
    »Ja«, sagte Nico tonlos. Wahrscheinlich hatte sie das gewollt. Viel wahrscheinlicher war, dass der Pfarrer versuchte, ihr eine goldene Brücke zu bauen, über die sie

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