Schattengrund
nicht gehen konnte. Sie stand vor dem Abgrund. Aber anders als das Mädchen in ihrem Traum würde sie, Nico, nicht fliegen können. Sie würde fallen. Fallen und fallen …
»Und dann?«
»Wir haben Sie oben auf dem Weg zum Brocken gefunden. Sie sind in die falsche Richtung gelaufen. Von Fili fehlte jede Spur. Die Bergwacht war alarmiert. Das ganze Dorf war auf den Beinen. Alle suchten mit, aber es war ein fast hoffnungsloses Unterfangen. Das Wetter verschlechterte sich rapide, ein Schneesturm tobte. Man konnte die Hand nicht vor den Augen sehen. Es wurde die kälteste Nacht, die Siebenlehen je erlebt hat – minus zweiundzwanzig Grad. Es war ein Wunder, dass Sie das überlebt haben. Drei Tage schwebten Sie zwischen Leben und Tod. Sie lagen im Koma, und keiner wusste, ob Sie je wieder aufwachen würden. Ich werde nie vergessen …«
Er brach ab und faltete die Hände. Die Daumen rieben nervös übereinander. Zwei kleine Tropfen fielen vor Nico auf die Tischplatte. Sie weinte und merkte es nicht.
»Zacharias kam ins Krankenhaus. Er hat einen der Ärzte zusammengeschlagen und die halbe Station zertrümmert. Ihr Vater hielt Wache vor ihrem Zimmer. Die beiden haben sich geprügelt und fast halb tot geschlagen. Zacharias ist es gelungen, an Ihr Bett zu kommen. Er hat die Schläuche herausgerissen, sie geschüttelt, angeschrien: Wo ist sie? Wo ist sie? Was hast du mit ihr gemacht?«
Nico schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte. Der Pfarrer stand auf und kam zu ihr, legte ihr die Hände auf die Schultern und streichelte ihren bebenden Rücken.
»Drei Mann mussten ihn überwältigen. Es war sinnlos. Nico, Sie wussten es nicht mehr. Sie wussten gar nichts. Sie hatten es vergessen.« Er nahm seine Hände weg. »Sie hätten nie hierher zurückkehren dürfen.«
Einundzwanzig
Nico lag auf dem Bett und starrte an die Decke. Ihre Augen waren geschwollen vom vielen Weinen, ihre Kehle war ganz rau. Ab und zu trank sie einen Schluck Wasser. Immer wieder schlug der Schmerz zu. Dann krümmte sie sich zusammen und schrie in das Kissen, so lange, bis Minx sich wieder zu ihr traute und ihre Pfoten sanft und vorsichtig auf ihren Arm setzte, als ob sie Nico bitten wollte, zurückzukommen aus ihrem Jammertal.
Am bittersten war die Einsicht, dass sie hier nichts mehr verloren hatte. Am liebsten hätte sie sofort ihre Tasche gepackt und wäre losgelaufen. Egal in welche Richtung, nur weg von hier. Aber es war aussichtlos. Sie schaltete das Radio ein, um den Wetterbericht nicht zu verpassen, aber alle Sender spielten Musik – fröhliche, dämliche Pop-Musik, Chart-Hits und Schlager, als ob es keinen Kummer und keine Schuld gäbe in dieser Welt.
Der Gedanke an ihre Eltern ließ Nico wieder in Tränen ausbrechen. Alles ergab jetzt einen Sinn. Kiana, die aus ihrem Leben verschwunden war. Die totale Ablehnung von Nicos seltsamem Erbe. Das Schweigen, wenn Nico nach dem Grund fragte. Ausflüchte, kleine Notlügen …
… sie hat nicht gut genug auf dich aufgepasst …
Nein, dachte Nico, das hast du nicht. Und dafür hast du büßen müssen, und ich muss es jetzt auch.
Sie blinzelte zum Fenster. Es war früher Nachmittag. Der Himmel hatte sich wieder zugezogen. Nico hoffte, dass es endlich genug war mit dem Schnee. Sie wollte weg, nur weg, und war gefangen am Ort ihres schlimmsten Versagens und im Visier eines Menschen, der nicht vergessen konnte, was sie ihm angetan hatte.
Zach?
Nico stand senkrecht im Bett. Natürlich! Es musste Zacharias gewesen sein. Wer sonst hätte es auf sie abgesehen? Sie lief zum Fenster und spähte hinunter zum Schwarzen Hirschen. In einigen Fenstern brannte Licht. Die Gaststube war dunkel, aber der Raum, in dem die alte Frau lebte, war hell. Nico glaubte, einen Schatten hinter dem Fenster zu erkennen. Ihr Blick fiel auf ein Dachfenster, hinter dem auch eine Lampe brannte. Ihr Herz zog sich zusammen.
… dass wir einen Sonderpreis auf die Dachkammer kriegen ? …
Leon. Er wusste nicht, was geschehen war. Niemand hatte es ihm gesagt. Er musste Fili gekannt haben. Hatte sie geliebt, mit ihr gespielt, herumgealbert auf seinen Besuchen in dem kalten Haus seiner Verwandtschaft. Wenn er erfahren würde, dass sie Schuld am Tod seiner Nichte war … Ihr Herz zog sich zusammen.
Sie nahm ihr Handy und schaltete es noch auf der Leiter zum Dachboden ein. Der Akku hatte sich etwas erholt. Ein schmaler Strich zeigte an, dass sie vielleicht noch ein, zwei Telefonate führen könnte. Sie öffnete die Luke und lehnte
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