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Schattengrund

Schattengrund

Titel: Schattengrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Herrmann
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Waren Leon und der Unbekannte ein und dieselbe Person? Sie konnte und wollte das nicht glauben. Er hatte ihr das Leben gerettet. Er hatte das Haus gesichert und ihr Essen gebracht. Er hatte sie in den Arm genommen … Nicos Herz zog sich zusammen. Vielleicht war auch das eine Lüge gewesen und er hatte von Anfang an gewusst, wer sie war und was sie getan hatte.
    Als sie hörte, dass er das Haus verließ und hinunter zur Straße ging, stand sie unsicher auf. Ihr war schwindelig. Vorsichtig kletterte sie die schmale Leiter hinunter. Minx folgte ihr wie ein Pfeil und brachte sie beinahe zum Stolpern. Die Katze flitzte weiter in die Küche und sandte Nico von dort auffordernde Klagelaute.
    »Nachher!«, rief Nico.
    Treppe und Flur waren voller feuchter Stiefelabdrücke. Nico lehnte sich an die Wand und atmete tief durch. Die Zweifel schossen in ihr Herz und krallten sich dort fest wie böse dunkle Vögel.
    Nein. Sie durfte keine Paranoia bekommen. Leon war doch nicht nachts aufs Dach geklettert, hatte einen Vogel getötet – woher hätte er den überhaupt nehmen sollen? –, um dann eine Riesenshow abzuziehen und sie zu retten. Aber sein Verhalten war merkwürdig. Sehr merkwürdig. Aber das war egal – sie würde ihn nicht mehr danach fragen. Sie würde ihn nie mehr wiedersehen, und das war auch besser so.
    Als Erstes schloss sie die Tür zweimal ab. Sie hatte das nach dem Besuch des Pfarrers vergessen. Kein Wunder, so aufgewühlt, wie sie gewesen war. Dann lehnte sie die Stirn an das kühle Holz und schloss die Augen. Eine Nacht, dachte sie. Eine Nacht noch, und ich bin weg und werde mir mein ganzes Leben wünschen, nie hier gewesen zu sein.
    Sie ging ins Wohnzimmer und fand ihre Messenger-Bag neben, nicht auf dem Sofa. Die hatte er also auch noch durchwühlt. Mit einem Stöhnen ließ sie sich in die Polster fallen. Nichts, was hier geschah, ergab einen Sinn. Das musste Kiana doch gewusst oder wenigstens geahnt haben. Sie hatte Nico hergelockt, um sie mit ihrer Tat zu konfrontieren. Hatte sie das mit einer guten oder einer teuflischen Absicht getan? Einer guten. Es musste eine gute sein, für etwas gut sein. Anders konnte Nico es sich nicht erklären.
    Sie rieb sich über die Stirn. Sie hatte Kopfschmerzen und wusste, dass das von dem vielen Weinen kam. Sie erinnerte sich an eine alte Keksdose, in der Kiana ihre Medikamente aufbewahrt hatte. Mit einem Stöhnen hievte sie sich hoch und ging in die Küche.
    Minx, die das Auftauchen ihres Frauchens völlig fehlinterpretierte, führte eine Mischung aus ekstatischem Freudentanz und keifendem Geschrei auf. Resigniert tappte Nico in die Vorratskammer und kam mit einer Dose Rouladen zurück.
    »Du kriegst Bauchweh«, warnte sie. Der Katze schien das egal zu sein. »Das ist viel zu salzig!«
    Auch das schien Minx nicht zu irritieren. Mit Argusaugen beobachtete sie, wie Nico die Büchse öffnete und dieses Mal wesentlich mehr Haferflocken unter die Konservenmahlzeit mischte. Schließlich war sie fertig und das Tier stürzte sich rücksichtslos und ohne Umschweife auf sein Fressen.
    Die Dose. Wo konnte Kiana sie versteckt haben? Sie suchte alle Regale und Schränke ab, fand sie aber nicht. Wahrscheinlich hatte sie dieselbe Person weggeworfen, die das Haus nach Kianas Tod aufgeräumt hatte. Sie ärgerte sich, dass sie den Pfarrer nicht danach gefragt hatte. Er wusste bestimmt, wer sich zuletzt um Kiana gekümmert hatte.
    Oder vielleicht war die Dose im Keller gelandet? Sie stieg die Treppe hinunter. Es war dunkel und merkwürdigerweise irgendwie warm. In der Werkstatt setzte Nico sich auf einen Ballen zusammengerolltes Stroh. Es roch ein wenig nach Schimmel. Die Besen an der Decke bewegten sich ganz sacht, vermutlich vom Luftzug, als sie die Tür geöffnet hatte. Nico stellte sich vor, dass Kiana nur kurz den Raum verlassen hatte, um einen Kakao zu holen. Als Kind hatte sie wahrscheinlich hier unten gespielt. Sich hinter dem Stroh versteckt oder die neuen Besen ausprobiert, ob man auf ihnen auch gut reiten konnte. Bizarre Häuser aus Reisig gebaut. Den Schemel auf die Seite gelegt und sich daraus ein Puppenhaus mit Strohfiguren und Möbeln aus Holzsplittern gebastelt. Ein schräger Sonnenstrahl, wohl als letzter Gruß des Tages vom frühen Abendhimmel gesandt, gebrochen von staubigen Fenstern, tauchte den Raum für einen Augenblick in mattgoldenes Licht.
    Es ist wie in einem Film, dachte Nico. Immer wieder kommen neue Bilder und Geschichten hinzu, hebt sich ein Vorhang hinter dem

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