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Schattengrund

Schattengrund

Titel: Schattengrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Herrmann
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sich weit hinaus. Sie rief ihre Mutter an, und als nach dem dritten Klingeln der Anrufbeantworter anging, war die Enttäuschung grenzenlos.
    »Mama? Ich …«
    Sie brach ab. Was sollte sie sagen? Wie konnte sie in ein paar Worten beschreiben, wie ihr zumute war? »Mein Akku ist fast alle. Ich wollte nur sagen, es geht mir gut. Ich komme so schnell wie möglich nach Hause.«
    Das Licht in Leons Dachkammer war ausgegangen. Es kam ihr vor wie ein Zeichen.
    »Ich … Ich weiß alles. Ihr hättet es mir sagen sollen. Ich wäre nie hierhergekommen«, sagte sie und legte auf.
    Sie schaltete das Handy aus, schloss das Fenster und wankte zu den alten Samtkissen. Eines hob sie hoch und roch daran. Staub. Muffige Feuchtigkeit. Und etwas anders. Etwas, das sie schon einmal gerochen hatte … vor Kurzem erst …
    Sie sah sich um. Hier oben hatten sie gesessen, Fili und sie. Der Dachboden hatte anders ausgesehen. Kräuterbündel hatten an den Sparren gehangen. In den Ecken lagerte Reisig in dicken Bündeln – wahrscheinlich für die Werkstatt im Keller. Es war kalt, eiskalt. Ein Winter, so schlimm wie dieser, den sie gerade erlebten. Aber das Haus war geheizt, und durch die Ritzen und die geöffnete Kaminluke drang die Wärme nach oben. Nicht genug, dass sie die dicken Schals ablegen konnten. Aber ausreichend, um sich diesen verwunschenen Raum zu ihrem geheimen Rückzugsort zu machen. Fili saß auf dem Kissen. Sie hatte Kianas Buch aufgeschlagen. Sie deutet auf die Seite mit dem silbernen Grab. In der Hand hielt sie einen Stift und malte etwas dazu.
    Nico schloss die Augen. Erinnere dich. Denk nach! Es ist wichtig! Was hat sie gemalt? Warum wollte Kiana, dass ich wiederkomme? Sie hat mich geliebt. Sie hat all die Jahre keinen Kontakt aufgenommen, um mich zu schützen. Aber sie wollte, dass ich wiederkomme. Sie wollte …
    Nico riss die Augen auf. Sie wollte, dass ich noch einmal in den alten Stollen gehe.
    In diesem Moment betrat jemand das Haus.

Zweiundzwanzig
    Auf Zehenspitzen schlich Nico zur Dachluke und klappte sie zu. Dann legte sie sich bäuchlings darauf und versuchte, durch die Ritzen nach unten ins Treppenhaus zu spähen. Schwere Schritte kamen in den Flur. Sie hielt die Luft an, um sich nicht zu verraten. Zweimal war der Unbekannte schon im Haus gewesen. Vielleicht versuchte er es gerade ein drittes Mal.
    Ein Scharren hinter ihrem Rücken ließ sie zusammenfahren. Mit einem Miauen kam Minx herangesprungen. Die Katze schien ein untrügliches Gespür dafür zu haben, im denkbar ungünstigsten Moment aufzutauchen.
    »Schschsch«, zischte Nico.
    Minx schnurrte und begann, ihre Krallen am Holz der Luke zu wetzen. Nico wollte sie wegschieben, aber das Tier hing fest.
    »Still!«
    Sie schnappte Minx und drückte sie an sich. Das ließ die Katze erst recht nicht mit sich geschehen. Sie schlüpfte zwischen Nicos Armen durch und rannte in die Ecke. Dabei verursachte sie einen Heidenlärm. Nico spähte wieder durch die Ritze.
    Die Schritte kamen die Treppe hinauf. Sie konnte eine Hand auf dem Geländerlauf erkennen. Hilflos sah sie sich um, aber hier oben gab es nichts, was sie als Waffe gebrauchen konnte. Sie schwor sich, in Zukunft keinen Schritt mehr ohne Messer zu tun. Sofern ich eine Zukunft habe, setzte sie in Gedanken hinzu.
    Der Mann erreichte den kleinen Flur zwischen ihrem und Kianas Zimmer.
    »Nico?«
    Es war Leon. Vor lauter Freude wäre sie am liebsten aufgesprungen, aber ihr Haar hatte sich im aufgerissenen Holz verfangen. Hektisch zog und zerrte sie daran, aber es gelang ihr nicht, sich zu befreien.
    »Nico?«
    Sie wollte ihn gerade rufen, als sie sah, wie er in ihr Zimmer ging. Mit zusammengebissenen Zähnen löste sie Haar für Haar, bis sie endlich den Kopf heben und sich zur Seite rollen lassen konnte. Sie hob die Lukentür an und erstarrte.
    Leon durchsuchte ihr Zimmer.
    Sie ließ die Klappe bis auf einen schmalen Spalt zurücksinken. Er hob ihr Kissen, sah unters Bett und ging zum Schrank. Vor den geöffneten Türen blieb er stehen und ließ den Blick über ihre wenigen Habseligkeiten streifen. Er hob einen Pullover, ließ ihn wieder fallen und schaute sich unschlüssig um. Dann ging er hinüber in Kianas Zimmer. Auch dort blieb er nicht lange. Nico kam es so vor, als ob er gar nichts richtig suchte, sondern sich lediglich überzeugte, dass das, wonach er Ausschau hielt, nicht hier oben war.
    Mit klopfendem Herzen wartete sie, bis er das Obergeschoss verließ und die Treppe hinunterstieg. Auch das noch.

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