Schattengrund
gefunden, Dr. Erdmann, der versuchen wird, sie behutsam zum Reden zu bringen …«
Es folgten noch ein paar Zeilen über das Wetter. Nico holte den nächsten Brief aus dem Umschlag.
»… es ist noch keine Besserung eingetreten. Eher das Gegenteil. Nico schreit nachts und hat Albträume. Das passiert immer, wenn sie ein Gespräch mit Dr. Erdmann hatte. Wir sind verzweifelt …«
Mit einem Kloß im Hals nahm sie das nächste Schreiben.
»… nach Rücksprache mit der Schule haben wir sie abgemeldet. Sie wird nach den Sommerferien noch einmal eingeschult. Die Lücken sind einfach zu groß – sie hat über zwei Monate gefehlt, kann sich nicht konzentrieren und hat eine panische Angst davor, in geschlossenen Räumen zu sein …«
Die nächsten Briefe bezogen sich auf erste kleine Fortschritte. Doch der Ton verschärfte sich, sobald Stefanie auf die Bitte Kianas einging, Nico zu besuchen.
»… sie wird ruhiger und kann auch schon wieder unter Aufsicht auf den Spielplatz. Aber jedes Mal, wenn das Wort Siebenlehen fällt, verschließt sie sich. Sie will nicht darüber reden. Dr. Erdmann schlägt eine Therapie mit Medikamenten vor, aber wir sind damit überhaupt nicht einverstanden. Deinen Vorschlag, dich gemeinsam zu besuchen, müssen wir ablehnen. Wenn eine Erinnerung kommt, dann bestimmt eine ganz furchtbare. Nico weint immer noch oft ohne jeden Grund. Na ja, den Grund kennen wir ja …«
Kiana hatte versucht, Kontakt zu Nico aufzunehmen. Ihre Eltern hatten das unterbunden. Je mehr Nico las, desto besser konnte sie diese Entscheidung verstehen. Sie öffnete das nächste Päckchen und wurde gleich mit dem ersten Jahrestag von Filis Tod konfrontiert.
»… Du schreibst, dass sie Nico die Schuld geben. Das ist so unglaublich, uns fehlen die Worte. Einem Kind! Das außerdem bis heute schwer traumatisiert ist! Dem Filis Vater im Krankenhaus noch an die Gurgel gesprungen ist! Kiana, nie, niemals wird Nico Siebenlehen noch einmal betreten. Wir verstehen deine Argumente. Es ist schrecklich, was Du aushalten musst. Aber Nico hat schon genug durchgemacht ….«
»… sie ist jetzt seit vier Wochen in der neuen Klasse und hat immer noch keinen Anschluss gefunden. Gestern hatten wir ein Gespräch mit der Lehrerin. Wir haben lange überlegt, ob wir die Frau einweihen sollen, uns dann aber dagegen entschieden …«
»… sie ist die Einzige, die noch nie zu einem Kindergeburtstag eingeladen wurde. Wir haben ein wenig Angst vor dem sechsten Dezember. Was, wenn kein Kind Nicos Einladung annimmt? Theo hat schon überlegt, den Eltern Geld zu geben …«
»Ich fasse es nicht!«
Minx fuhr hoch und starrte ihr Frauchen verständnislos an.
»Sie wollten tatsächlich dafür bezahlen, dass jemand zu meinem Geburtstag kommt?«
Sie nahm den letzten Umschlag – eine Doppelkarte mit bunten glitzernden Christbaumkugeln.
»… wir wünschen Dir trotzdem ein schönes und besinnliches Weihnachtsfest. Wir werden verreisen. Theo übernimmt mehr und mehr die Aufgaben des Geschäftsführers in dem Reisebüro, sodass wir günstig in die Sonne fliegen können. Weihnachten und alles, was dazugehört, macht Nico traurig. Zu ihrem Geburtstag ist niemand gekommen …«
Sie ließ die Karte sinken. Konnte etwas nach so langer Zeit noch so wehtun? Nico wischte sich über die Augen, die feucht geworden waren. Sie sah sich vor dem Kuchen sitzen – sieben Kerzen, allesamt kleine Zwerge, und in der Mitte Schneewittchen. Sie hatte die kleine Figur herausgerissen und an die Wand geworfen. »Ich will das nicht! Ich will das nicht!«
Weil es an Schnee erinnerte und an eine erfrorene Prinzessin? Wie sehr musste sie ihre Eltern schockiert haben. Langsam begriff sie, was Filis Tod auch mit ihr angerichtet hatte. Zwölf Jahre lang hatte sie keine, überhaupt keine Erinnerungen mehr an diese Zeit gehabt. Doch die Briefe lösten Mitleid mit dem Mädchen aus, das sie einmal gewesen sein musste. Still, traurig und unbeliebt. Ein Kind, das niemand einladen wollte. Zu dem niemand kommen wollte. Das merkwürdig war und anders. Das mit niemandem darüber redete, was es so verändert hatte. Wie viele Jahre war das so gegangen? Die Grundschule war eine Katastrophe gewesen, das wusste sie noch. Auch die ersten Jahre auf dem Gymnasium waren die Hölle gewesen.
Heiße Dankbarkeit schoss in ihr Herz, als sie an Valerie dachte. Sie hätte alles dafür gegeben, wenn ihre Freundin in diesen Minuten hätte bei ihr sein können.
Den nächsten und übernächsten Stapel
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