Schattengrund
Vorhang. Was mich wohl noch alles erwarten würde, wenn ich länger Zeit hätte? Das Haus hütete seine Geheimnisse gut. Aber es offenbarte auch das eine oder andere, wenn man gar nicht damit rechnet.
Nach einer Weile kam Minx, schleckte sich das Maul und sprang schnurrend neben Nico auf den Reisig. Mit wachen Augen sah die Katze sich um. Ein Paradies für Jäger.
Die Werkbank stand in der Ecke. Seit Generationen hatte sie niemand mehr bewegt. Vermutlich hatte Kiana dort die Stiele zurechtgesägt und gehobelt. In Griffhöhe angebracht waren mehrere Eisenkisten mit Loch, aus denen die Enden von Hanfseilen hingen. Einige Stöcke lehnten an der Wand, daneben lagen Reisigbündel in genau der richtigen Größe. Es juckte Nico in den Fingern.
Sie ging zur Werkbank, nahm einen roh behandelten Stiel und eins der Bündel und suchte nach Werkzeug. Eine Gartenschere vielleicht, um das Bündel zu öffnen und dann zurechtzustutzen. Die Werkbank hatte links und rechts kleine Unterschränke mit Eisentüren. Sie öffnete die linke – Staub, Dreck und eine Maus kamen ihr entgegen. Augenblicklich richtete Minx die Nackenhaare auf und begann zu fauchen. Das Tier flitzte in Panik quer durch den Raum und verschwand in einer Ecke. Minx sprang hinterher und war wohl für eine Weile beschäftigt.
»Lass sie leben!«, rief Nico ihr nach.
Nico wandte sich dem rechten Unterschrank zu. Im oberen Fach lagen Schraubenzieher, Kneifzangen, Drahtscheren und weitere Werkzeuge. Sie wollte gerade nach dem passenden greifen, da sah sie die Kiste.
Sie war staubig und alt. Nico erinnerte sich, dass sie früher den Christbaumschmuck in solchen Kartons aus stabiler grauer Pappe aufbewahrt hatten, in denen die gläsernen Kostbarkeiten bruchsicher aufbewahrt wurden. Hatte Kiana nicht ein Räuchermännchen gehabt? Und ein paar von diesen Schwippbögen, die Nico wegen ihrer kunsthandwerklichen Attitüde eigentlich aufs Tiefste verachtete, die aber wunderbar in die Fenster von Schattengrund gepasst hätten?
Sie zog die Kiste heraus. Sie war schwer und der Deckel, haargenau angepasst, ließ sich nur mit Mühe heben. Doch Nicos Entdeckerfreude wurde enttäuscht. Briefe. Bündelweise … Briefe.
Sie nahm eines der Päckchen und drehte es um. Ihr Herz blieb fast stehen, als sie den Absender las. Stefanie und Theo Wagner. Fassungslos betrachtete sie die vertraute Handschrift ihrer Mutter. Adressiert waren die Schreiben allesamt an Kiana. Sie griff sich das nächste. Wieder von ihren Eltern. Sie wühlte weiter, bis sie ein Dutzend mit Hanfseilen verschnürte Pakete vor ihren Füßen liegen hatte. Sie begutachtete Briefmarken und Stempel. Zwölf Päckchen. Zwölf Jahre.
Minx kam zurück, übellaunig und gereizt. Die Maus war ihr wohl entwischt. Sie schnupperte kurz an den Päckchen, verlor aber sofort das Interesse.
Nico stopfte die Briefe zurück in den Karton und schleppte ihn nach oben ins Wohnzimmer. Sie kochte sich eine Kanne Tee, um gegen ihre Kopfschmerzen anzugehen, legte noch ein Brikett nach und sah kurz aus dem Fenster. Die Sonne, die eben noch einmal unter der Wolkendecke durchgelugt hatte, war hinter den Bergen verschwunden. Eine frühe Winter-Abenddämmerung senkte sich bereits auf Siebenlehen herab. In den Häusern gingen die Lichter an. Einige Tannenbäume in den Vorgärten waren mit Lichterketten geschmückt, in manchen Fenstern erkannte sie blinkende Sterne. Niemand war auf den Straßen unterwegs, alle hatten sich ins Warme zurückgezogen und feierten den ersten Advent.
Mit Wehmut dachte Nico an die Unmengen von Mürbeteigkeksen und Schokoladenplätzchen, die sie bereits gebacken hatten und die, luftdicht in Dosen verschlossen, auf ihren großen Moment warteten. Sie sehnte sich nach ihren Eltern, nach dem stillen Frieden dieser Wochenenden vor Weihnachten. Und sie hätte sie gerne gefragt, wie zwölf Jahre Briefeschreiben mit » sie war schon immer etwas spinnert « zusammenpassten.
Seufzend machte sie es sich auf der Couch gemütlich. Das Küchenmesser lag in Reichweite, und als Minx sich zu ihren Füßen zusammengerollt hatte und der Tee in Nicos Becher danpfte, war sie bereit.
Sie begann mit dem ältesten Päckchen. Filis Todesjahr. Als sie die Kordel durchschnitt, zitterten ihre Hände vor Aufregung.
»Liebe Kiana,
wir glauben nicht, dass es gut ist, wenn Du Nico schon so bald besuchst. Sie ist sehr still und introvertiert. Auf Anraten der Ärzte ist sie noch eine Weile krankgeschrieben. Wir haben einen guten Kinderpsychologen
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