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Schattengrund

Schattengrund

Titel: Schattengrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Herrmann
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überflog sie nur. Kurze Berichte: Nico lernte fleißig, Theo war gefragt worden, ob er das Reisebüro übernehmen wollte. Urlaubsreisen in den Wintermonaten, immer so lange und so weit weg wie möglich. Kianas Fragen nach einem Besuch wurden seltener und hörten ganz auf. Der Ton wurde distanzierter, Fremdheit begann, sich einzuschleichen.
    »… nein, Nico fragt auch nicht nach Dir. Natürlich gratulieren wir Dir von Herzen zu Deinem siebzigsten Geburtstag. Aber wir werden nicht kommen, und Nico weiß auch nichts von diesem Datum, also sei bitte nicht enttäuscht …«
    »… Nico hat mich letzte Woche zu Tode erschreckt, als sie fragte, wo der Harz eigentlich liegt. Sie hatten das in Heimatkunde, aber ich hatte natürlich Angst, dass sie sich erinnert …«
    »… wir wissen, wie hart es für dich ist. Natürlich kommen wir am nächsten Wochenende. Nico ist auf Klassenfahrt, da können wir uns ein paar Tage davonstehlen …«
    »Und heimlich besucht habt ihr sie auch! Hinter meinem Rücken! Ich fasse es nicht. Jetzt ist mir natürlich klar, warum Mammutsch wusste, dass das Taxi in Altenbrunn Schneeketten hat!« Minx stand auf und stakste mit steifen Beinen auf Nico zu. »Hätten Sie es mir nicht irgendwann sagen können? Ich bin doch kein Kind mehr!«
    Wie zur Bestätigung miaute Minx. Es hätte aber auch ein erster kleiner Hungeralarm sein können.
    »Du hattest doch grade was. Eine ganze Dose Rouladen.«
    Beim Wort Rouladen begann Minx zu schnurren.
    Nico nahm den letzten Stapel. Er war dünn, nur vier Briefe. Kiana musste schon alt und schwach gewesen sein, denn Stefanie erkundigte sich besorgt nach ihrem Gesundheitszustand. Noch einmal musste Kiana versucht haben, Nicos Mutter dazu zu überreden, ihre Tochter nach Siebenlehen zu lassen.
    »… sie kennt Dich nicht mehr. Es tut weh, ich verstehe das, aber es ist besser so. Warum jetzt nach so langer Zeit die alten Wunden wieder aufreißen? Wir haben damals alles versucht, um ihr zu helfen. Es wurde erst besser, als wir die Dinge ruhen ließen und aufgehört haben, zu bohren und zu fragen. Sie hat es vergessen. Und, so bitter das für Dich sein mag – es ist besser so. Sie hat ihr Leben in den Griff bekommen. Sie hat eine beste Freundin. Als ich zum ersten Mal Mädchenlachen in unserer Wohnung gehört habe, bin ich in die Küche und habe geweint …«
    Nico ließ das Blatt sinken.
    »Davon habe ich gar nichts mitbekommen«, murmelte sie. Minx rieb ihren Kopf an Nicos streichelnder Hand. »All die Jahre haben sie mir was vorgespielt. Um mich zu schützen. Und jetzt sitze ich hier und kriege es kübelweise auf den Kopf.«
    Na ja, ich habe es ja so gewollt, setzte sie in Gedanken hinzu. Aber irgendwann musste doch mal Schluss sein mit den Heimlichkeiten. Einen letzten Brief hatte sie noch nicht gelesen. Sommer letzten Jahres, kurz vor Kianas Tod. War sie krank gewesen? Hatte sie Schmerzen gehabt? Sich alleine gefühlt? Bestimmt.
    »Liebe Kiana, ich hoffe sehr, Dir geht es etwas besser. Vielleicht kann ich nächstes Wochenende kommen – Theo ist auf einer Reisemesse, und Nico will bei ihrer Freundin Valerie übernachten. Dann können wir auch in aller Ruhe noch einmal darüber reden. Ich habe Theo gegenüber angedeutet, was Du vorhast, und er ist mit mir einer Meinung: Das ist sehr großzügig, aber wir wollen mit Siebenlehen nichts mehr zu tun haben. Ja, ich kenne Deine Einwände und verstehe sie gut. Aber Nico macht nächstes Jahr das Abitur. Sie hat sich gefangen, ist eine gute Schülerin, hat Freunde gefunden und will studieren. Wir wollen sie nicht noch einmal mit ihrem Trauma konfrontieren und das wäre die Überschreibung von Schattengrund bestimmt. Es würde sie an all das Schreckliche erinnern, das sie dort erlebt hat – und damit meine ich nicht die Zeit bei Dir, das weißt Du.
    Es wundert uns bis heute, wie Du es dort ausgehalten hast. Wahrscheinlich, weil Du einer dieser Menschen bist, die ihre Wurzeln in der Erde haben. Wir haben sie in der Familie. Bitte verzeih uns, dass wir Deine Hand immer wieder ausgeschlagen haben. Wir wollten Nico schützen und sind überzeugt, dass es uns gelungen ist. Du siehst das anders, aber Du kennst sie nicht. Sie ist eine wunderbare junge Frau geworden, und wir sind felsenfest überzeugt, dass das auch daran liegt, dass sie sich an nichts mehr erinnert …«
    Also hatte Kiana bis kurz vor ihrem Tod noch mit Stefanie über Schattengrund gesprochen. Nico fühlte sich abgrundtief hintergangen. Aber richtig böse sein

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