Schattengrund
Dunkelheit. Sie erinnerte sich an die heruntergelassenen Rollläden vor den Fenstern. Und an Zach. Der Unbekannte war von unten gekommen. Dann war es wohl Zach gewesen, der gerade an ihrem Zimmer vorbeigekommen war.
Raus. Nichts wie raus hier, bevor er es sich anders überlegte.
Sie nahm Stufe um Stufe und konnte natürlich nicht vermeiden, dass es leise knarrte. Jedes Mal zuckte sie zusammen und blieb stehen. Lächerlich, denn dadurch konnte sie die Geräusche, die sie verursachte, auch nicht ungeschehen machen. Auf halber Strecke hörte sie leise Stimmen und roch – Bratwurst.
Die Stimmen waren ihr egal, aber die Bratwurst war es nicht. Augenblicklich zerrte der Hunger wie ein wild gewordenes Tier an ihrem Magen. Wann hatte sie zuletzt etwas gegessen? Würde ihr jetzt jemand ein knuspriges, frisch gebackenes Brot mit Schinken unter die Nase halten … Gleichzeitig wurde ihr übel und damit konnte Nico gar nichts anfangen. Der Bauch hatte Hunger, die Kehle schnürte sich zu. Sie fing wieder an zu zittern.
Sie musste weg hier. So schnell wie möglich.
Wahrscheinlich hatte Leon sie ins Haus getragen und in eines der leeren Gästezimmer gebracht. Aber wo steckte er? Die Stimmen wurden lauter. Eine Frau schien sich ziemlich aufzuregen. Dann war wieder Stille. Und in diese Stille hinein vernahm Nico ein hohes, heiseres Krächzen – Leons Urgroßmutter. Beim Gedanken, welche Verwünschungen ihr noch blühen könnten, wenn diese Hexe sie hier auf der Treppe erwischte, verlor Nico jede Zurückhaltung. Sie lief die Treppe hinunter zur Haustür, wollte sie aufreißen – aber sie war abgeschlossen.
Verzweifelt rüttelte Nico an der Klinke. Aussichtlos. Mit einem lauten Klacken schaltete sich die Flurbeleuchtung ab. Im Nebenzimmer wurde die Frau wieder laut.
»Taucht auf einmal auf, wie aus dem Nichts, und spuckt uns ins Gesicht!«
Wieder krächzte die Alte. Ein paar zerrissene Worte drangen an ihr Ohr.
»… die alten Versprechen gelten nicht mehr … so lange geschwiegen … das Blutrecht ist heilig …«
Die Tür zum Gastraum stand offen. Durch das geriffelte Glas in der Tür fiel etwas Licht in den Flur. Nico sah den Tresen, und auf ihm stand etwas, das ihr bei ihrem ersten Besuch völlig entgangen war. Ein Telefon. Die Verbindung zur Außenwelt. Der Draht zu Menschen, die sie mochten. Sie vermissten. Die sie unbedingt sprechen musste.
Die beiden Frauen waren offenbar so in ihre Auseinandersetzung vertieft, dass sie nichts mitbekamen. Der Weg bis zum Tresen war ein Hindernislauf. Im schummrigen Halbdunkel blieb Nico an einem hochgestellten Stuhl hängen und konnte ihn in letzter Sekunde festhalten, bevor er mit lautem Getöse auf den Boden gefallen wäre. Vorsichtig schob sie ihn zurück an seinen Platz und bewegte sich noch aufmerksamer vorwärts, bis sie den Tresen erreicht hatte und mit klopfendem Herzen den Hörer abnahm.
Der monotone Klang des Freizeichens klang lieblicher in ihren Ohren als alles, was sie jemals gehört hatte. Ihre Fingerspitzen glitten über die Tastatur. Sie konnte die Zahlen nicht erkennen, aber sie nahm an, dass sie ähnlich angeordnet waren wie auf ihrem Handy. Endlich hatte sie die Verbindung, endlich kam das Freizeichen.
Geh ran, betete Nico. Bitte bitte geh ran …
»Wagner?«
Vor Erleichterung hätte Nico beinahe den Hörer fallen gelassen. »Mama?«
»Nico! Um Gottes willen! Was hat denn deine Nachricht zu bedeuten? Wo bist du? Etwa immer noch in Siebenlehen?«
Sie nahm den Telefonapparat und setzte sich damit hinter dem Tresen auf den Fußboden.
»Ja. Wir sind immer noch eingeschneit.«
»Warum flüsterst du so?«
Weil ich in einem geschlossenen Hotel auf dem Fußboden sitze, nebenan ein blutleerer Vampir Flüche ausstößt und ich Angst habe, gelyncht zu werden?, schoss es ihr durch den Kopf.
»Ich bin heiser. Ich glaube, ich habe mich erkältet.«
»Komm zurück.« Die Stimme ihrer Mutter klang so sorgenvoll, dass Nico beinahe das Herz brach.
»Das geht nicht. Noch nicht. Morgen sollen die Straßen wieder frei sein.«
»Ich hole dich ab. Okay? Und dann reden wir über alles.«
Nico biss sich auf die Unterlippe. Die Tränen stiegen ihr wieder in die Augen und sie konnte nichts dagegen tun. Sie hoffte nur, dass ihre Mutter nicht merkte, wie ihr wirklich ums Herz war.
»Ich habe deine Briefe gefunden. Die, die du an Kiana geschrieben hast.«
»Ach Nico, Nico …
»Warum muss ich hier so schreckliche Dinge über mich erfahren? Warum von fremden Leuten und nicht
Weitere Kostenlose Bücher