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Schattengrund

Schattengrund

Titel: Schattengrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Herrmann
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trübe war der Himmel. Wahrscheinlich rollte schon die nächste Ladung Schnee an. Nico kuschelte sich noch tiefer in ihre Jacke und steckte die Hände in die Taschen.
    Es war ein kleiner Friedhof. Direkt hinter der Kirche lagen die alten Gräber. Kunstvoll verzierte Eisenkreuze ragten aus dem Schnee. Als Nico sich näherte, um sie sich genauer anzusehen, stoben Krähen aus den Wipfeln der Tannen. Sie krächzten, stiegen in die Luft und kreisten um den Kirchturm. Dort setzten sie sich aufs Dach oder schlüpften in den Glockenstuhl. Nur eine von ihnen schien es sich anders zu überlegen. Sie flog hoch, umkreiste den Friedhof und ließ sich schließlich auf einem der Kreuze nieder.
    Nico blieb stehen. Der Schnee lag wie ein weiches, schweres Tuch auf Gräbern und Wegen. Nur einige wenige Fußspuren bewiesen, dass dieser Ort in den letzten Stunden aufgesucht worden war. Sie begriff, dass sie Kianas Grab ohne Hilfe nicht finden würde, und alles in ihr sträubte sich, noch einmal mit dem Pfarrer zu sprechen. Sie wollte gerade wieder den Rückweg antreten, als die Krähe aufflatterte und ein paar Meter weiter flog. Sie ließ sich auf einem modernen glatten Grabstein nieder und sah Nico an. Ob sie ahnte, dass einer ihrer Gefährten oben in Schattengrund sein Leben gelassen hatte?
    Vorsichtig ging Nico auf dem schmalen Weg ein paar Schritte in diese Richtung. Damit scheuchte sie den Vogel auf, der ein paar Meter weiterflog und sich auf der Rückenlehne einer Bank niederließ. Über ihm breiteten sich die schneeschweren ausladenden Zweige einer uralten Tanne aus wie ein natürliches Dach. Ein geschützter, windstiller Platz, an dem man, angenehmere Witterung vorausgesetzt, verweilen und seinen Gedanken nachhängen konnte.
    Obwohl Nico alles angezogen hatte, was gegen diese Kälte helfen konnte, fror sie erbärmlich. Wahrscheinlich brütete sie eine Erkältung aus. Sie lief zur Bank und setzte sich. Die Krähe hüpfte auf den Boden und suchte auf dem harten Boden nach etwas Fressbarem.
    Es war so still hier, so friedlich. Die Kälte knackte in den Ästen. Von weit her glaubte Nico, das Geräusch von Motoren zu vernehmen. Vielleicht waren es die Räumfahrzeuge, die Altenbrunn bereits befreit hatten und sich nun auf den Weg nach Siebenlehen machten. Beeilt euch gefälligst, dachte sie. Eine Nacht noch, dann hatte sie es hinter sich.
    Morgen um die gleiche Zeit würde sie zu Hause sein und in ihrem Bett schlafen, warm, sicher, geborgen. Vielleicht würde Valerie vorbeikommen. Ihr könnte sie alles erzählen. Alles. Sogar das, was der Pfarrer ihr gesagt hatte und was wie ein Stein in ihrer Brust lag. Valerie wüsste vielleicht, wie man weiterleben konnte. Ob man vergessen konnte. Ob man lernen würde, es zu ertragen, einen anderen Menschen auf dem Gewissen zu haben.
    Hast du das gewollt, Kiana? War das wirklich dein Wunsch? Ich bin hierhergekommen, weil ich wunderschöne Erinnerungen gesucht habe. Und jetzt weiß ich, dass sie nichts wert sind. War ich so grausam? Wolltest du mir das ins Gedächtnis zurückrufen? Wenn ja, dann sind wir uns ähnlicher, als wir glaubten.
    Sie stand auf und wollte den Friedhof verlassen. Die Krähe hüpfte in die entgegengesetzte Richtung. Sie erreichte einen kleinen, fast völlig im Schnee versunkenen Hügel. Dort pickte und rüttelte sie an einem gefrorenen Strauch – einem Rosenbusch. Fußspuren führten zu dem Grab. Jemand musste vor Kurzem dort gewesen sein, denn sie waren frisch und nicht vom Neuschnee verweht.
    Es war nicht die Neugier, die Nico dazu brachte, ihre Meinung zu ändern und doch noch ein paar Schritte weiter zu gehen. Es war die Ahnung, dass sie etwas finden würde, das sie gar nicht gesucht hatte. Je näher sie dem kleinen Grab kam, desto sicherer war sie. Als sie es erreichte, flog die Krähe auf und verschwand.
    Nico ging in die Knie und begann, den Schnee wegzuwischen. Erst war er pulverig und trocken wie Puderzucker und bestäubte in kürzester Zeit Hose, Handschuhe und Jacke. Dann wurde er körniger, um schließlich zu einer festgebackenen Eiskruste zu werden, die man kaum noch mit bloßen Händen entfernen konnte. Sie hielt kurz inne und sah sich um. Niemand war in der Nähe. Sie stand auf und hackte mit dem Stiefelabsatz Risse in die glasharte Fläche. Endlich zersprang sie mit einem Knacken in viele kleine Stücke. Nico hockte sich hin und wischte die Eisstücke von der Grabplatte. Buchstaben wurden sichtbar, Zahlen, ein Stern, ein Kreuz.
    Philomenia Urban. Geboren am

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