Schattengrund
kalt, dass sie glaubte, auf der Stelle zu erfrieren. Sie schob die Hände unter ihre Achseln und krümmte sich noch mehr zusammen.
»Sie ist weggelaufen und hat sich verirrt«, sagte er. »Das war ein Unglück. Ein schreckliches Unglück. Aber du hast damit nichts zu tun.«
Nico klappte zusammen. Sie fiel einfach hin und es tat gar nicht weh. Sie lag im Schnee und dachte nur noch, dass sie nie wieder aufstehen wollte. Genau. Das war es. Augen zu und Ende.
Leon beugte sich über sie. »Nico?«, fragte er und tätschelte ihre Wangen. »Nico?«
Es wurde dunkel und warm. Und Nico dachte, wenn das Sterben war, dann war es eigentlich gar nicht so schlimm.
Fünfundzwanzig
Der Himmel war weiß mit rot karierten Wolken.
Nico blinzelte. Sie lag in einem Bett, ein Zipfel ihres Kissens ragte in ihr Blickfeld. Sie hob die Hand und schob es zur Seite. Der Raum war kalt, aber vom Heizkörper unter dem Fenster breitete sich bereits die Ahnung von Wärme aus. Die Vorhänge waren, genau wie ihr Bettzeug, rot-weiß kariert. Jemand hatte sie zugezogen; schwaches gelbes Licht drang von außen durch den groben Stoff und tauchte das Zimmer in ein schummriges Halbdunkel. Mühsam richtete sie sich auf. Ihr war schwindelig, sie hatte Kopfschmerzen, und das Kratzen im Hals war schlimmer geworden. Was zum Teufel war passiert? Wo war sie? Immerhin hatte sie noch alle ihre Sachen an.
Ihre Stiefel standen neben dem Bett. Sie hob einen hoch und bemerkte, dass in den Kerben der Profile noch Wasser war. Sie war also noch nicht sehr lange hier. Das Zimmer war klein, es bot gerade Platz für einen altmodischen Schrank, einen kleinen Tisch, zwei Stühle und das Bett – ein Doppelbett. Links und rechts davon standen Nachttische aus billigem Sperrholz, nussbaumbraun furniert.
Nico zog die Schublade des Möbels heraus, das ihr am nächsten stand. Eine Bibel lag darin, und sie sah aus, als ob sie nicht oft benutzt worden wäre. Die Wände waren mit Blümchentapete beklebt. Neben ihrem Bett löste sich die Naht einer Bahn. Dieses Zimmer war wohl lange nicht benutzt worden.
Sie setzte die Füße auf einen Flickenteppich und stand langsam auf. Der leichte Schwindel verflog. Sie ging zum Fenster und schob den Vorhang zur Seite. Sie stand im ersten Stock des Schwarzen Hirschen. Unter ihr, vom gelben Schein der Straßenlampen erhellt, lag die Kreuzung. Das Letzte, woran sie sich erinnerte, waren der Schnee und die Wärme. Und Leon, der sich über sie gebeugt hatte … Hatte er sie hierhergebracht?
Schritte, schwere Schritte auf einer Holztreppe. Licht kroch wie ein dünner Finger unter den Spalt ihrer Tür. Die Dielen knarrten, als der Mann den Flur erreichte und langsam weiterging. Ein Schatten glitt vorbei. Nico hielt die Luft an.
Die Schritte entfernten sich. Am Ende des Ganges musste eine weitere Treppe sein. Der Mann stieg sie hoch. Nico hörte, wie die Deckenbalken sich bewegten. Er musste sehr groß und sehr schwer sein, denn das Holz federte unter seinen Schritten. Direkt über ihr machte er Halt. Sie hörte das Quietschen einer Tür und wie jemand den Raum betrat. Zwei dumpfe Schläge – sie zuckte zusammen. Offenbar ließ er seine Stiefel nach dem Ausziehen gerne aus einem Meter Höhe auf den Boden knallen.
Verdammt hellhörig war das hier. So leise wie möglich schlich Nico zum Bett und schlüpfte in ihre Schuhe. Licht anzumachen, wagte sie nicht. Vielleicht konnte man das von oben sehen oder der Schnee reflektierte es. Am besten, sie verließ dieses unheimliche Haus so schnell wie möglich.
Ihre Jacke hing über der Lehne des Stuhls. Sie schnappte sie und ging auf Zehenspitzen zur Tür. Vorsichtig lugte sie in den Gang. Das Flurlicht draußen brannte noch. Auf dem Boden lag ein grüner abgetretener Läufer. Die Wände waren holzvertäfelt. Vor langer Zeit mussten sie hochglanzpoliert gewesen sein, mit Intarsien, die Jagdszenen darstellen. Nun waren sie blind und viele der eingelegten Holzstückchen fehlten. Wie ein Puzzle, das jemand mittendrin aufgegeben hat, dachte sie beim Anblick eines Dreiviertel-Stückes »Röhrender Hirsch vor dunklem Tannenwald«. Auch wenn es nicht ihr Stil war – sie konnte ahnen, dass dieses Haus vor langer Zeit einmal ein Schmuckstück gewesen war. An der Decke hing ein schiefer Kronleuchter aus Geweihen. Gerade mal zwei Glühbirnen brannten noch. Spinnweben und dunkler Staub sammelten sich auf den Stoffschirmen.
Sie folgte dem Läufer bis zum Treppenabsatz und spähte hinab. Das Erdgeschoss lag in tiefer
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