Schattengrund
oder besten Freund verdächtigen … Das ist schon krass.«
»Ich weiß. Denkst du, mir gefällt das?«
»Was hast du denn in der Hand außer dieser Zeichnung?«
»Nichts«, musste Nico gestehen.
Valerie schwieg. »Das ist nicht viel«, sagte sie schließlich. »Damit machst du dir ehrlich gesagt wirklich keine Freunde.«
»Ja. Scheiße!«, zischte Nico. »Ich hab’s mir nicht ausgesucht! Kein Mensch will doch mit so was was zu tun haben. Es trifft ja auch immer nur die anderen. Da kann man so richtig den Moralischen geben und weiß natürlich genau, was man getan hätte! Aber was tut man, wenn es um Freunde oder die eigene Familie geht? Was? Fili war meine Freundin. Ich war zu klein, um zu checken, worum es ging. Fili hat es mir nicht gesagt, aber sie hat es gemalt. Sie wollte niemanden verpfeifen und ist lieber abgehauen als den Mund aufzumachen. Sie war sechs! Ein kleines Mädchen! Welches Schwein, welche Drecksau hat ihr das angetan?«
»Nicht nur ihr«, sagte Valerie schließlich. »Auch dir. Du und Kiana, ihr wart zwölf Jahre lang die perfekten Sündenböcke. Ohne es zu ahnen, hast du mit deinen Fragen schön in ein Wespennest gestochen.«
Nico lugte um die Ecke. Alles war dunkel und still.
»Hier ist ein Killer unterwegs«, flüsterte sie. »Er wollte mich vom ersten Moment an rausekeln aus Siebenlehen. Aber das hat nicht geklappt, weil wir von der Außenwelt abgeschnitten sind. Und er weiß, dass ich ihm näher komme.«
»Nico, um Himmels willen! Schließ dich in das Zimmer ein und verrammle alles, was geht! Mach keine Dummheiten!«
»Ich muss in diesen Stollen.«
»Ey, hör mir zu. Dein Leon ist ein Idiot. Aber mit einem hat er recht: Du wirst nicht in verlassene Minen spazieren. Hörst du? Morgen nimmst du den Bus nach Altenbrunn und zuckelst von dort aus gemütlich Richtung Heimat. Verstanden?«
»Ich will wissen, wer es getan hat. Es ist in diesem Haus geschehen.«
»Das war ein Hotel! Verstehst du, warum dieser Leon so sauer auf dich ist? Das kann jeder gewesen sein, der damals in Siebenlehen Urlaub gemacht hat. Wann ist Fili gestorben?«
»Am dritten Januar vor zwölf Jahren.«
»Na bitte. Weihnachtsferien. In vielen Bundesländern gehen die bis zum sechsten Januar. Die Bude wird voll gewesen sein. Nico, überleg doch mal. Du hast nichts in der Hand und stellst einfach so eine ganze Familie an den Pranger? Das geht nicht.«
»Die Gästebücher.«
»Was sagst du?«
»Die Gästebücher!« Nico krabbelte aus dem Versteck. Im Halbdunkel konnte sie kaum etwas erkennen. Woher hatte Leon den Generalschlüssel gezaubert? »Es muss noch Unterlagen geben, wer damals hier übernachtet hat. Irgendwo habe ich aufgeschnappt, dass die im Keller sind.«
»Was hast du vor?«
»Es gibt einen Schlüssel. Ich werde in den Keller gehen und nachsehen. Dann weiß ich, wer alles in dieser Zeit im Schwarzen Hirschen war.«
»Und dann?«
Nicos Finger ertasteten den Auszug einer Schublade. »Dann werde ich sie fragen. Einen nach dem anderen.«
»Das … Das ist hammergefährlich. Das weißt du. Lass es bleiben. Oder warte wenigstens, bis deine Eltern da sind.«
Nico öffnete die Luke. Korkenzieher, Würfelbecher, Kellnerbesteck, Blöcke, kaltes Metall, rund, schwer, Schlüssel. Schlüssel! »Meine Eltern?«
»Ja«, antwortete Valerie kleinlaut. »Deine Mutter ist schon auf dem Weg. Morgen will sie dich abholen, und ich fürchte, sie meint es ernst.«
»Prima.« Nico ließ den Schüssel in ihre Hosentasche gleiten. »Dann habe ich ja noch ein paar Stunden Zeit.«
Dreißig
Das Gespräch war beendet. Die etwas füllige Frau mit dem herausgewachsenen dunklen Haaransatz legte den Hörer auf.
Zach hatte den Kopf auf die Rückenlehne des Polstersessels gelegt und schnarchte mit offenem Mund. Im Fernsehen lief die Tagesschau. Gleich würde der Krimi kommen. Trixi verknotete den Gürtel ihres Bademantels, nahm den Teller mit dem angebissenen Leberwurstbrot und trug ihn in die Küche. Im Kühlschrank stand die Flasche Korn. Sie schenkte sich ein halbes Wasserglas voll ein und kippte den ersten Schluck. Die Wärme breitete sich in ihrem Magen aus, doch sie konnte die Kälte in ihren Gliedern nicht vertreiben. Sie zitterte. Manchmal kam es schon am Vormittag, dann halfen ein Cognac im Kaffee und Pfefferminzbonbons. Zita sollte den Geruch nicht bemerken. Vor ihr hatte sie Respekt. Vor Zach nicht. Schon lange nicht mehr.
Scheißalkohol. Sie trank den zweiten Schluck. Er zündete ein kleines Feuer in ihrem Magen
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