Schattengrund
Stühlen auszuweichen, aber es gelang ihr nicht. Es war, als ob die Möbel plötzlich lebendig geworden wären und sich ihr in den Weg stellten. Sie stolperte und wäre um ein Haar hingefallen, wenn Leon sie nicht festgehalten hätte.
»Ist es das?«, fragte er.
Sie spürte seinen Griff an ihrem Arm und wünschte sich, er würde nie mehr loslassen. Als er es tat, kam das so unvermittelt, dass sie beinahe ein zweites Mal das Gleichgewicht verloren hätte.
»Ist es das?«, wiederholte er.
»Was?« Ihr Hirn hatte das Denken ohne Rücksprache eingestellt.
»Alles geklärt zwischen uns?«
Sie ließ ihn stehen und marschierte zum Ausgang. Tränen stiegen ihr in die Augen, sie erkannte überhaupt nichts mehr und lief direkt in den nächsten Tisch. Der Krach, mit dem die Tischbeine über den Boden schrammten, hätte Tote aufwecken können.
»Nico!«
Sie hastete los. Nur raus hier. Sie wollte nicht, dass er sah, wie ihr zumute war. Endlich hatte sie die Tür gefunden. Sie riss sie auf – aber Leon war schneller. Er schlug sie ihr vor der Nase wieder zu und stellte sich mit verschränkten Armen davor.
»Ich denke nicht«, sagte er.
Nico wusste nicht, was er meinte. Sie zog die Nase hoch. Die Tränen liefen ihr über die Wangen, und sie fühlte sich so elend, dass es ihr egal war. Sollte er doch sehen, dass sie heulte. Sie war nicht aus Stein. Sie war kein blinder Racheengel. Sie wollte nur die Wahrheit wissen, weil sonst etwas Kaputtes in ihr nie wieder ganz werden würde.
»Ich denke, dass wir noch ein paar Dinge zur Sprache bringen sollten.«
»Lass mich in Ruhe.«
Wütend schob sie ihn zur Seite und stürmte hinaus. Sie wollte den Schwarzen Hirschen auf der Stelle verlassen. Mehr Vorwürfe konnte sie nicht ertragen. Nicht von ihm.
Er folgte ihr in den Flur.
»Pizza«, sagte er.
Nico glaubte, sie hätte sich verhört. Sie blieb stehen.
»Heiß. Knusprig. Saftig. Mit Käse extra.«
Das war der perfideste Trick, den er anwenden konnte.
»Margarita?«, lockte er. »Salami? Quattro stagioni ?«
Es war so absurd, dass sie um ein Haar gelächelt hätte.
»Mit doppelt Käse?«, fragte sie das geriffelte Glas in der Haustür. Das gab ihr natürlich keine Antwort. Die kam von ihm.
»Kiloweise.«
Dreiunddreißig
Ein Wunder. Es gab noch Leben in Siebenlehen. Ein kleiner Anbau neben einem unscheinbaren Haus, ein paar Straßen hinter der Kirche Richtung Altenbrunn, beleuchtet mit der vielversprechenden Reklame »Pizza Pasta Döner«. Die Einrichtung war spartanisch: ein paar Bistrotische, Barhocker und ein Spielautomat, der alle paar Minuten losjaulte und mit blinkenden Lichtern versuchte, die Aufmerksamkeit der wenigen Gäste auf sich zu ziehen. Im Schaufenster, das ganz beschlagen war, versuchte es ein Christbaum aus Plastik mit vorweihnachtlicher Stimmungsmache.
Hinter einem hohen Verkaufstresen stand ein Mann in mittleren Jahren, den es aus südlicheren Gefilden ausgerechnet in den Harz verschlagen hatte und dem das trotzdem nicht aufs Gemüt geschlagen war. Er war gerade dabei, eine Pizza zu belegen, und nickte ihnen beim Eintreten freundlich zu.
» Buona sera ! Zum Mitnehmen oder Hieressen?«
»Hieressen«, antwortete Leon.
Zwei der hohen Tische waren besetzt. An einem knutschte ein Pärchen wild herum, am anderen saß ein älterer Mann, der gedankenschwer auf seinen Hund starrte, einen Terriermix, der es sich auf dem Boden gemütlich gemacht hatte.
Leon steuerte auf den dritten Tisch am Fenster zu. Nico schälte sich aus ihrer Jacke. Es war warm, es roch lecker und man nahm so gut wie keine Notiz von ihr. Auf dem Tisch lagen bedruckte Zettel mit der Speisekarte. Beide studierten das Angebot. Nico wusste schnell, was sie wollte.
»Ich nehme die Salami mit Extrakäse, Zwiebeln, Thunfisch, Schinken und Peperoni.« Schon diese Aufzählung ließ Nico das Wasser im Mund zusammenlaufen.
»Also einmal alles. Richtig?«
Sie nickte. Leon ging zu dem Mann, um die Bestellung aufzugeben. Er wechselte noch ein paar Worte mit ihm. Offenbar war Nicos Bestellung etwas kompliziert. Vorsichtig hob Nico den Blick, um zu ergründen, ob das Pärchen oder der Mann sie jetzt anstarrten. Das Pärchen holte kurz Luft, er fuhr ihr durch die Haare, sagte »Oh, du …« oder etwas ähnlich Geistreiches und sie knutschten weiter. Nico rieb ein Guckloch in dem beschlagenen Fenster frei. Es hatte wieder angefangen zu schneien. Kleine Eiskristalle, die vom Himmel fielen. Der Schnee funkelte im Licht der Laternen wie Milliarden von
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