Schattengrund
Diamanten.
Auf der anderen Straßenseite stand ein Mann und schaute herüber. Er trug einen langen, dunklen Mantel, sein Gesicht lag im Schatten. Wie ertappt zuckte Nico zurück. Er hatte ihr direkt in die Augen gesehen, als ob er darauf gewartet hätte, dass sie sich zeigte. Sie sah zu Leon, der gerade die Bestellung beendet hatte. Der Chef schob die Pizza in den Ofen. Leon kam mit einem Bier und einer Cola zu ihr.
»Ist was?«
Sie sah noch einmal hinaus. Der Mann war weg.
»Nein.«
Er schob ihr die Colaflasche über den Tisch zu. »Ist das okay?«
»Klar.« Sie trank einen Schluck. Dass es das noch gab. Prickelnde, belebende Limonade, Zucker, Sprudelwasser … Pizza. Wenn sie nicht bald etwas zu essen bekäme, würde sie tot vom Stuhl fallen.
» Cheers. «
Er berührte ihre Flasche kurz mit seiner. Natürlich. Sie hatte wieder einmal nicht warten können.
»Willst du Anzeige erstatten?«
»Ich?«, fragte Nico verblüfft. »Weshalb?«
»Sie ist immerhin mit einer Knarre auf dich losgegangen.«
»Sie hätte noch nicht mal einen Elefanten getroffen, wenn er direkt vor ihr gestanden hätte.«
Nico leerte den Rest der Flasche in einem Zug. Leon sah ihr dabei zu. Sie konnte diesen Blick nicht deuten. Amüsierte sie ihn? Wollte er sie aushorchen? Mit seinem Pizza-Friedensangebot hatte sich zumindest ihr innerer Sturm gelegt, mit dem sie gegen ihn angelaufen war. Aber sie musste aufpassen, was sie von sich preisgeben würde. In jeder Beziehung. Eine kurze Weile schwiegen sie sich an.
»Das ist eine echt harte Nummer, die du hier durchziehst«, sagte er schließlich. »Hast du denn außer deinen Vermutungen auch Beweise?«
»Warum fragst du nicht einfach, ob ich etwas im Keller gefunden habe?«
»Hast du was gefunden?«
Ja, sie war käuflich. Für eine Pizza tutto completto gab sie jedes Geheimnis preis. Noch war die Vertrautheit nicht wieder da, aber sie wollte mit dem, was sie gefunden hatte, nicht alleine bleiben. Der Einzige weit und breit, mit dem sie reden konnte, war Leon. Außerdem rettete er sie regelmäßig vor dem Hungertod.
»Die Gästebücher. Ich hab sie in einem der alten Kartons gefunden. Übrigens: Wenn der Schwarze Hirsch schon immer so mit seiner Buchhaltung umgegangen ist, wundert mich die Pleite nicht.«
»Meine Rede. Also?«
Vorsichtig sah Nico sich um. Das Pärchen hing immer noch aneinander wie zwei Tintenfische bei der Paarung. Der Hund stand auf, schüttelte sich, dass die Steuermarke klirrte, und legte sich wieder hin. Sein Herrchen murmelte: »Gut so, feini.«
Nico zog die herausgerissenen Blätter aus ihrer Hosentasche und legte sie auf den Tisch. Leon streckte die Hand aus, als ob er sie an sich ziehen wollte, ließ es dann aber bleiben, weil die Pizza kam. Hastig steckte Nico die Blätter wieder weg.
» Buon appetito. « Der Mann lächelte sie freundlich an.
Nico war über diese nette Behandlung so perplex, dass sie die Antwort vergaß. Sie wickelte ihr Besteck aus einer dünnen Papierserviette und wartete, bis Leon auch so weit war.
»Also dann …«
Überrascht lächelte er sie an. »Oh, du hast gewartet?«
Nico grinste. »Mein Fehler. Hau rein.«
Sie machten sich über die Pizza her, und Nico hatte das Gefühl, zum ersten Mal seit Tagen wieder in der echten Welt gelandet zu sein.
»Ist schon was anderes als Dosenrouladen, nicht?«, fragte Leon.
Nico vergaß vor Schreck zu kauen. »Minx!«, rief sie. Es klang wie »Mist!«, und Leon hob fragend die Augenbrauen. Sie würgte den Bissen hinunter.
»Minx. Ich habe sie total vergessen. Sie ist seit heute Nachmittag ganz allein in Schattengrund.«
»Was? Willst du gleich los? Wir können das auch einpacken lassen.«
Nico brauchte eine Sekunde, um zu verstehen, dass er einen Witz gemacht hatte. Wenn sie ehrlich war – sie hätte hier gut den Rest des Abends und ihretwegen auch die Nacht verbringen können. Irgendwo spielte leise ein Radio, verträumte Tanzmusik vergangener Jahrzehnte. Der Patron lehnte mit dem Rücken an seiner Arbeitsfläche und kaute auf einem Streichholz herum. Zwischendurch griff er nach einem Geschirrhandtuch und fuhr damit über die spiegelblanke Anrichte. Wäre das Schnarren und Blinken des Spielautomaten nicht gewesen, der kleine Imbiss hätte einer der gemütlichsten Orte der Welt sein können.
»Sie muss auf jeden Fall noch was zu Fressen kriegen«, antwortete Nico.
Die Pizza war dünn, knusprig, mit einem saftigen Belag und wunderbarem würzigen Käse, der Fäden zog, wenn sie ein
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