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Schattengrund

Schattengrund

Titel: Schattengrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Herrmann
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da soll ich kommen und ein wenig, nun … kehren?«
    Nico röchelte nur noch. Auch Leon begriff, dass das Gespräch eine Wendung nahm, die schwer in Richtung »nicht jugendfrei« tendierte.
    »Nein, also …« stotterte er.
    Aber Herrn Kress interessierte Leons Schornstein offenbar weniger als befürchtet. »Weißt du, wie spät es ist? Außerdem haben wir Sonntag, und ich bin nur an den Apparat gegangen, weil ich auf einen Anruf von meinem Mann gewartet habe.«
    Nico lag fast unter dem Tisch vor Lachen.
    »Aber wenn du Hilfe brauchst, dass dein … Schornstein … wieder funktioniert, dann wende dich an den Kollegen in Altenbrunn. Der macht das zwar nicht so zärtlich wie ich, dafür ist er jünger. Ich bin seit vier Jahren in Rente. Und glaube mir, mein Junge, da fängt das Leben erst an!«
    Nico riss sich zusammen und beugte sich über das Handy. »Herr Kress, eigentlich rufen wir aus einem ganz anderen Grund an.«
    »Oh, eine junge Dame? Sagen Sie bloß, der Herr mit diesem erotischen Timbre in der Stimme ist vergeben!«
    Leon grinste und schüttelte den Kopf, was wohl hieß, dass er sich blendend über die Flirtversuche des ehemaligen Schornsteinfegers amüsierte.
    »Ich fürchte ja«, antwortete Nico. Ihr fiel ein, dass sie so gut wie gar nichts über Leon wusste. Noch nicht einmal, ob er in England liiert war. »Herr Kress, wir sind in Siebenlehen und wollten fragen, ob Sie sich noch an den Winter vor zwölf Jahren erinnern können.«
    »Mein reizendes Kind! Da überschätzen Sie mich aber. Vor zwölf Jahren?«
    »Es war eiskalt. Noch kälter als jetzt. Das Thermometer ist unter die –20-Grad-Marke gefallen. Das war Rekord, glaube ich.«
    »Ach ja. Nun, es gibt ja nicht viel, in was unsere Gegend Weltniveau erreicht. Wenn es denn die Kälte ist …«
    »Sie haben in der Nacht vom zweiten auf den dritten Januar im Schwarzen Hirschen übernachtet.«
    Schweigen. Beinahe hätte Nico geglaubt, die Verbindung wäre unterbrochen, da hörte sie ein lang gezogenes Schnauben, das am anderen Ende wohl als Seufzer begonnen hatte.
    »Das Mädchen«, sagte Herr Kress. Mit einem Mal klang seine Stimme völlig normal. »Ruft ihr deshalb an?«
    »Ja.«
    »Ein Kind wurde vermisst. Tage später habe ich aus der Zeitung erfahren, dass es oben am Berg erfroren ist. Haben Sie diesen Winter gemeint?«
    »Ja.« Nico spürte, wie die Aufregung in ihr stieg. »Warum haben Sie im Schwarzen Hirschen übernachtet?«
    »Verzeihen Sie, aber aus welchem Grund wollen Sie das wissen?«
    Nico wechselte einen kurzen Blick mit Leon. Der nickte ihr zu.
    »Ich war mit dem Mädchen befreundet. Ich habe keine Erinnerung mehr an diese Nacht. Ich suche Menschen, die mir etwas darüber erzählen können.«
    »Warum kommen Sie dann nicht einfach her?«
    »Wir sind eingeschneit.«
    »Ah so. Und es ist so dringend?«
    »Ja, Herr Kress. Es ist sogar mehr als das. Wenn Sie im Schwarzen Hirschen waren, ist Ihnen vielleicht etwas aufgefallen, das mit dem Mädchen zu tun hat. Ich bin dankbar für jede Information. Für jeden kleinen Schnipsel, mit dem ich das Puzzle zusammensetzen kann. Ich muss wissen, was in dieser Nacht geschehen ist. Ich … Ich bin damals mit Fili zusammen weggelaufen. Aber ich weiß nicht mehr, was da oben passiert ist. Es ist wichtig.«
    »Sie waren dabei?«
    »Ja«, antwortete Nico leise.
    »Wie alt waren Sie damals?«
    »Ich war sechs. Genauso alt wie Fili, als sie starb.«
    »Fili. Fili …« Kress wiederholte den Namen, als ob er damit seiner Erinnerung auf die Sprünge helfen könnte. »Mein Auto hat in der Kälte den Geist aufgegeben. Ich kam nicht mehr zurück. Der ADAC meinte, dass es Stunden dauern würde, bis ein Wagen nach Siebenlehen käme. Also habe ich mir ein Zimmer in diesem Hotel genommen. Da war ein kleines Mädchen im Schwarzen Hirschen. Blond? Dünn und blass?«
    »Ja! Das ist sie!«, rief Nico.
    Das war sie, setzte sie im Geist hinzu, brachte es aber nicht fertig, die Worte auszusprechen. Sie spürte Leons Atem auf ihrer Wange.
    »Herr Kress … Bitte denken Sie nach. Ist Ihnen an diesem Tag etwas aufgefallen?«
    »Natürlich. Das Kind ist wohl kurz vor sechs noch einmal zu einer Freundin gegangen. Waren Sie das?«
    »Ja.«
    »Aber es kam nicht zurück. Nach dem Abendessen, so gegen zehn, kam eine Frau in die Gaststube. Sie war sehr aufgeregt und behauptete, ihre Tochter wäre gemeinsam mit Fili verschwunden. Sie machte große Vorwürfe. Sie sah sehr müde und besorgt aus und war wohl schon Stunden in der Kälte und

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