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Schattengrund

Schattengrund

Titel: Schattengrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Herrmann
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wieder zurück. Sie will ins silberne Grab, zu dem schlafenden Ritter im Berg. Ich soll mitkommen. Ich habe Angst. Ich glaube an Gott, an das Christkind, an die Zahnfee und an Engel. Ich glaube tief und fest an den silbernen Ritter. Aber es ist der Glaube eines Kindes. Etwas ganz tief in mir drin sagt mir, dass er sich vom Glauben der Erwachsenen unterscheidet.«
    »Weiter«, sagt Leon leise. »Gut. Du machst das gut.«
    Er drückt ihre Hand. Er ist wie ein Führer in der Nacht, wie der Lotse eines kleinen, zerbrechlichen Schiffs. Seine Berührung gibt ihr Kraft, sich zu konzentrieren.
    »Ich will nicht. – Dann gehe ich allein, sagt Fili. – Du weißt doch gar nicht wo das ist, sage ich. Ich will zu Kiana, die in der Küche arbeitet. Es riecht so gut nach Zimt und Bratäpfeln. Das Feuer knackt im Ofen. Minx liegt davor und schläft. Es ist die Wärme und die Liebe, die mich in Schattengrund halten. Aber Fili ist auf der Flucht vor dem Bösen …«
    Leon legt den Arm um ihre Schulter und zieht sie an sich heran. Sie vergräbt ihr Gesicht in seinem Pullover. Es ist dunkel und warm. Sie fühlt sich geborgen. Sie kann ihm alles sagen. Die Bilder jener Nacht – sie sieht sie so deutlich, als wäre all das erst vor Kurzem geschehen. Warum? Woher kommt die Erinnerung? Hatte die Schuld, die man ihr in die Schuhe geschoben hatte, den Blick darauf versperrt?
    »Fili rennt raus. Ich muss mich entscheiden. Ich habe Angst. Ich kenne den Wald nicht und ich war noch nie auf dem Berg. Aber Fili ist schon fast am Gartentor. Ich nehme Mantel, Schal, Mütze und Handschuhe. Sie sind noch feucht vom Schneemann-Bauen am Nachmittag. Ich habe ein schlechtes Gewissen. Ich will Kiana Bescheid sagen, und ich weiß, sie wird mich zurückhalten. Aber ich kann Fili nicht allein lassen.«
    Der Schmerz wird groß und drückt ihr fast die Kehle zu.
    »Sie war doch meine Freundin! Und … und …«
    Leon drückt sie noch fester an sich. Seine Schulter ist der einzige Halt, den sie hat.
    »… ich wollte den silbernen Ritter sehen.«
    Leon streicht ihr übers Haar. Es tut so gut, seine Arme zu spüren. Er ist da. Er hört zu. Er lässt sie nicht allein, wenn sie das dunkelste Tor ihrer Kindheit öffnet.
    »Ich sehe den Besen neben der Haustür. Wir haben damit gespielt. Wir waren Winterhexen. Uns kann nichts passieren, denn wenn es ernst wird, fliegen wir einfach davon. Doch ich lasse den Besen stehen. War das ein Fehler? Hätte ich fliegen können, statt mich zu verirren? Fili ist schon ein Stück voraus. Ich rufe sie und renne hinterher. Der Wald ist dunkel. Ich drehe mich noch einmal um und sehe Schattengrund.«
    Weißer Rauch steigt aus dem Schornstein. Das Licht in den Fenstern leuchtet warm. Die Nacht ist blau. Tiefdunkles Blau. Der Himmel wie ein gefrorener See. Leon wiegt sie weiter in den Armen wie ein kleines Kind. Nico will die Augen nicht öffnen. Sie hat Angst, dass das zarte Band zu ihrer Erinnerung reißt.
    »Schon nach kurzer Zeit verliere ich die Orientierung. Irgendwann kommen wir an einem Wegweiser vorbei. Eine alte Hexe hockt darauf und grinst uns an.«
    »Die Kreuzung«, sagt Leon leise. »Nach rechts führt sie auf den Brocken, nach links hinunter nach Altenbrunn. Welchen Weg habt ihr genommen?«
    »Keinen«, flüstert Nico. »Wir sind einfach geradeaus hinein in den Wald gelaufen. Ein alter Holzfällerweg vielleicht. Baumstämme liegen am Wegrand. Fili läuft weiter. Wohin willst du?, fragte ich sie. Sie lächelt.«
    Sie hat Raureif auf den Wimpern und Perlen aus gefrorenem Schnee in den Haaren. Sie trägt einen weißen schäbigen Anorak und Wollhandschuhe, die irgendwann einmal weiß gewesen sind. Das Kunstfell an der Kapuze ist verfilzt. Doch es sieht in dieser Nacht aus wie das Diadem einer Prinzessin. Es ist nicht mehr weit, sagt sie. Alles ist still. Der Wald hält den Atem an. Und dann beginnt es zu schneien. Dichte, schwere Flocken fallen vom Himmel. Durch die entlaubten Äste der Bäume schwebt ein letzter Gruß der Engel.
    »Ich spüre meine Beine nicht mehr. Es ist so kalt. Ich weiß nicht, wo wir sind. Ich werde langsamer. Fili läuft voraus. Ab und zu kann ich sie noch sehen zwischen den Baumstämmen. Ich folge ihren Spuren, aber der Schnee fällt dichter. Ich will umkehren, doch der Weg zurück verschwindet vor meinen Augen. Er wird einfach von oben zugedeckt. Ich weiß nicht mehr, wo ich bin. Ich rufe. Ich schreie. Ich habe Angst.«
    Nico blinzelt. Verschwommen erkennt sie bunte Reflexe. Es ist der Spielautomat

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