Schattengrund
er wird die Kohlen ja wohl nicht in ein Gästezimmer geliefert haben.«
»Nein.« Leon holte sein Portemonnaie heraus und stellte die Teller zusammen. »Ich fürchte, wir sind auf einer ganz falschen Fährte, wenn wir weiter bei der Gästeliste bleiben. Wir müssten herausfinden, wer wirklich an diesem Abend im Schwarzen Hirschen gewesen ist, und daran wird sich kaum jemand erinnern. Es könnte nämlich jeder gewesen sein. Falls es stimmt, was du glaubst.«
»Es stimmt«, sagte Nico leise. »Du hast es doch gehört. Herr Kress kann bezeugen, dass Fili vor jemandem davongerannt ist.«
»Ja. Aber dieser Jemand könnte wirklich halb Siebenlehen gewesen sein. Die Zimmerschlüssel hingen am Bord hinterm Tresen in der Gaststube. Keiner hat so richtig darauf geachtet. Es war wohl viel los in der Gaststube an diesem Abend, sonst wäre es Trixi und Zach viel früher aufgefallen, dass Fili weg war.«
Ich habe Fili nicht in den Wald gelockt, dachte Nico. Fast schämte sie sich, dass sie so glücklich war. Trixi hat sich das ausgedacht, um nicht als Rabenmutter dazustehen. Daher auch die schreckliche Auseinandersetzung mit Kiana. Daher der ganze, alte Hass. Versäumnisse, Vorwürfe, bittere Schuldzuweisungen.
Sie hat nicht aufgepasst.
Und übrig blieben nüchterne Fakten: Ein Kind war gequält worden. Die Eltern bekamen es nicht mit, weil sie überfordert waren. Fili hatte eine Freundin. Das war Nico, die die Ferien bei Kiana verbrachte. Die Mädchen spielten oft zusammen. Fili malte das, was sie bedrückte, in Kianas Märchenbuch.
Hatte Kiana die Zeichnung gefunden? Hatte sie Zach und Trixi zur Rede gestellt? War das der Grund für die Auseinandersetzung gewesen, von der der Schornsteinfeger gesprochen hatte? Hatte Fili ein schlechtes Ge-wissen bekommen und das Bild deshalb herausgerissen und in ihrem Zimmer versteckt? So musste es gewesen sein.
Der schwarze Geist war ein Mann gewesen. Am selben Tag, an dem Fili weggelaufen und Nico ihr aus irgendeinem Grund gefolgt war, hatte er es noch einmal versucht. Fili konnte ihm gerade noch entwischen – vielleicht, weil der Schornsteinfeger, ohne es zu wollen oder zu verstehen, den Mann bei seinen Übergriffen gestört hatte. Fili war zu Nico gerannt – zu Kianas Haus, dem einzigen Schutzort, den sie gehabt hatte.
»Sie wollte in den Berg.« Nico spürte, wie ihr die Kehle eng wurde. »Sie war verzweifelt. Sie wollte nicht mehr zurück. Jemand hat ihr wehgetan.«
»Ist das die Wahrheit oder reimst du dir das nur so zusammen?«
Kapierte Leon immer noch nicht? Was sollten diese Fragen, die ihre Glaubwürdigkeit immer wieder in Zweifel zogen?
»Es ist die Wahrheit. Das weiß ich jetzt. Was Herr Kress eben am Telefon erzählt hat, bestätigt das doch alles.«
»Du glaubst, ich stehe nicht auf deiner Seite. Aber das tue ich. Wenn so etwas wirklich passiert ist und der Täter immer noch frei herumläuft, dann muss er dafür büßen. Aber dafür müssen deine Beweise hieb- und stichfest sein. Und bei aller …« Er brach ab und trank einen Schluck. »Bei allem Respekt: Bis jetzt hast du nichts, aber auch gar nichts in der Hand. Du musst dich erinnern. An jede Einzelheit. Jedes Wort. Jeden Schritt, den ihr zusammen getan habt. Kannst du das?«
Nico dachte nach. »Ich kann es.«
»Dann versuch es.«
»Jetzt?«
»Jetzt. Morgen ist es zu spät.«
Sie schloss die Augen. Sie sah die heilige Barbara vor sich mit ihren Tränen aus Eis. Fili, dachte sie, rede mit mir. Sag mir, was geschehen ist.
Die Wachspuppe schlug die Augen auf. Nico sah in Filis Gesicht. Sie hatte von der Kälte gerötete Wangen und nassen Schnee in den Haaren. Sie war außer Atem vom Laufen. Nico hatte sie schon von Weitem gesehen, von ihrem Platz am Fenster mit den Kissen und den kuscheligen Decken, wo sie in jenem Winter oft gesessen hatte, wenn es draußen zu kalt zum Spielen gewesen war.
Die Geräusche des Spielautomaten wurden leiser. Das Dudeln und Klingeln vermischte sich mit einer Weihnachtsmelodie. Schneeflöckchen, Weißröckchen, wann kommst du geschneit … Fili mit den roten Stiefeln eilt die Straße hinauf zu Schattengrund.
»Fili kam zu uns, es muss früher Abend gewesen sein. Es war schon dunkel draußen. Ich mache ihr die Tür auf. Sie weint. Sie hat …«
… Tränen aus Eis.
Jemand ergreift ihre Hand. Ist es Leon? Nico sitzt immer noch mit geschlossenen Augen da. Sie sieht Fili vor sich, klar und deutlich, als ob es gestern gewesen wäre.
»Sie ist außer sich. Sie sagt, sie will nie
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