Schattenherz
spät zurück. Trotzdem wagte sie kaum, Luft zu holen. SchlieÃlich begann es, in dem Gewirr von Brombeerzweigen, hinter dem sie sich versteckt hatte, laut zu rascheln. Als das Rascheln in geräuschvolles Schmatzen überging, atmete Malin erleichtert auf.
Alles klar! Da hat eindeutig ein Igel eine von den fetten Schnecken erwischt, die in Svennis verwildertem Gemüsegarten rumkriechen!
Sie hielt einen Moment inne, um sich gedanklich wieder auf Anatol, Dr. Spengler und Franziska Reinhardt zu konzentrieren.
Oops, ich glaub, ich hab Franziska Reinhardt eben tatsächlich Franzi genannt. Wenn die wüsste â¦
Sie spielte kurz mit dem Gedanken, am nächsten Morgen in der Klinik anzurufen und die beiden Ãrzte in alles einzuweihen. Aber dann fiel ihr die dicke Freundschaft zwischen Helmut und seinem Anwalt Klaus Behrens wieder ein. Und Dr. Spengler kannte ihr Stiefvater schlieÃlich auch von früher.
Männerfreundschaften ⦠Wer weiÃ, wie nah sich Helmut und Dr. Spengler stehen. Und die Geschichte mit dem Feuerlegen und dem angeblichen Selbstmordversuch hat bisher schlieÃlich jeder geglaubt. Sogar die Polizei.
Nee, Dakota. In der Klinik anzurufen, ist keine gute Idee. Das lass ich lieber.
Sie schaltete den MP3-Player eine Zeit lang aus und hing ihren Gedanken nach. Sie fragte sich, ob es noch irgendwo so etwas wie den Gott ihrer Kindheit gab: einen wunderschönen alten Mann mit langem weiÃem Rauschebart, der weise, gütig und gerecht die Geschicke der Menschheit lenkte.
WeiÃt du, Dakota, als Kind hab ich mir Gott vorgestellt wie den Santa Claus aus der Cola-Werbung. Und ich hab ihn um schönes Wetter an meinem Geburtstag und um ein Aufklappbuch mit beweglichen Papierfigürchen gebeten. Und darum, dass er meine Mama im Himmel beschützen soll.
Heute glaub ich schon lange nicht mehr an den Nikolaus oder an einen Gott, der auf einer Wolke durch die Gegend fliegt und Bilderbücher auf Geburtstagstische zaubert. Aber wenn da oben irgendeine göttliche Macht auch nur ein paar Minuten Zeit für mich hat, dann möchte ich sie hiermit bitten: Pass auf Anatol auf. Und auf meine Mama. Nicht im Himmel, sondern hier auf der Erde; irgendwo in einer Gefängniszelle.
Anatol sagt, das Frauengefängnis, das infrage kommt, ist gar nicht weit von hier.
â Warum hat sie mir nie geschrieben?
Als ihr beim Gedanken an ihre Mutter Tränen in die Augen stiegen, schaltete Malin den MP3-Player aus.
Ein Igel trippelte quer über den Weg, der um das Haus herumführte. Er hielt inne, als er Malin kommen hörte, und hob schnuppernd seine spitze schwarze Nase.
Malin blieb stehen, um den nächtlichen Jäger passieren zu lassen. »Keine Panik, Kleiner«, wisperte sie. »Lass es dir schmecken.«
Keine drei Meter entfernt drückte sich eine Gestalt in den Mondschatten, um nicht gesehen zu werden.
Nachdem der Igel in Richtung Küchengarten verschwunden war, setzte Malin ihren Weg fort. Als sie durch die zerbrochene Eingangstür schlüpfte, war die dunkle Gestalt verschwunden.
Im Traum fand Malin sich im Innern eines Hauses wieder, das zunächst der Villa zu Hause ähnelte â leer geräumt und nur schwach beleuchtet. Doch als sie weiterging, geriet sie in ihr völlig unbekannte Flure, Gänge und Zimmer. Eine undefinierbare Gestalt begleitete sie und erwartete offensichtlich, von ihr durch das Gebäude geführt zu werden. Aber sosehr sich Malin auch bemühte: Sie wusste weder, was hinter der nächsten Tür lag, noch, wo sich ein Ausgang aus diesem Labyrinth befand.
SchlieÃlich landete sie in einem düsteren Nebenraum; fensterlos, scheuÃlich möbliert und vollgestopft mit tausenderlei Dingen: Vasen mit verwelkten Pflanzen darin, zerbrochenem Spielzeug, verstaubten, kitschigen Porzellanfiguren und ausgestopften Tieren mit räudigem Fell. Im Traum erinnerte sie sich, dass ihr GroÃvater eine Schwäche für Jagdtrophäen gehabt hatte. Sogar die Lampe in seinem Arbeitszimmer hatte aus kunstvoll miteinander verschlungenen Hirschgeweihen bestanden. Ihre GroÃmutter hatte sie schon wenige Tage nach GroÃvaters Tod mitsamt den gebleichten Schädeln und den ausgestopften Tieren auf den Dachboden bringen lassen.
Malin fragte sich, wie sie plötzlich in einem ganz anderen Teil des Hauses wieder auftauchen konnten: ein Fuchs mit fast haarlosem Kopf, ein Rehkitz, dem die Vorderläufe fehlten, und eine
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