Schattenherz
wenn Kelly es nicht schafft, Svenni oder wer auch immer da aufgekreuzt ist, loszuwerden? Wo sollen wir denn dann hin?«
Anatol zuckte die Achseln. »Irgendwas wird uns schon einfallen. Was wir jetzt erst mal brauchen, ist Zeit. Du musst deiner Mutter schreiben. Im Knast wird heutzutage längst nicht mehr jeder Brief kontrolliert. Und wennschon. Die kennen doch die Zusammenhänge nicht, also werden sie auch ganz bestimmt nicht Helmut anrufen und dich verpetzen. Die Adresse vom Frauengefängnis hab ich auswendig gelernt. Tja ⦠Und dann kommt es auf deine Mutter an. Dir bleibt dann erst mal nichts anderes übrig als abzuwarten.«
»Anatol â¦Â«, begann Malin vorsichtig, »das alles dauert vielleicht zehn, vierzehn Tage oder sogar noch länger.«
»Ja. Und?«
»Also, ich komm schon alleine klar. Ich meine: Ich hab dich bis jetzt noch nie gefragt, wo du eigentlich lebst. Die Klinik ist schlieÃlich nicht dein Zuhause. Und ich könnte gut verstehen, wenn du ⦠« Sie unterbrach sich. Anatol schien ihr nicht mehr zuzuhören. Er fixierte ein Entenpärchen, das die Ruhepause zwischen zwei Kanufahrer-Gruppen nutzte, um im Eiltempo auf das GroÃe Meer und den schützenden Röhrichtgürtel zuzuschwimmen.
»A-na-tidenphobie«, sagte er. » Wusstest du, dass es so was gibt?«
»Was? Anatol, hörst du mir überhaupt zu?«
»Anatidenphobie«, wiederholte Anatol, »so nennt man die Angst, von einer Ente beobachtet zu werden. So was gibtâs tatsächlich! Unglaublich, oder?«
»Ja. Total schräg. Und im Moment so unwichtig wie nur was!«
Als Malin merkte, wie Anatol unter ihrem aggressiven Ton zusammenzuckte, legte sie ihm die Hand unters Kinn und zwang ihn, ihr in die Augen zu schauen. »Hey. Es hat keinen Sinn, mir immer nur auszuweichen, okay?«, sagte sie sanft. »Also: Was ist los? Warum willst du nicht zu dir nach Hause, hm?«
Inzwischen hatte Kelly Mineralwasser und Apfelsaft auf den Campingtisch gestellt. Während sie erzählte, lehnte sie sich genüsslich zurück und lieà sich mit geschlossenen Augen die Sonne ins Gesicht scheinen; ganz so, als sei Svenni der Gast und sein Garten ihr Zuhause.
»⦠und mein Vater war bei der Bundeswehr: Immer unterwegs, woâs gerade knallt, verstehst du?«
Svenni nickte. »Ja. Bund is ScheiÃe.«
»Genau. Echt übel, diese Auslandseinsätze. Da weiÃt du nie ⦠Meinen Alten hatâs dann erwischt: Peng! Sprengladung im Auto von so ânem Selbstmordkommando. Tja, das warâs.«
»Boah! Echt?«
»Echt. Na ja. Ob es daran lag oder an was anderem: Jedenfalls hat meine Mutter dann, als ich so zehn oder elf war, das Saufen angefangen. Ich bin abgehauen und wieder zurückgekommen und abgehauen und wieder zurückgekommen. Sie hat mir jedes Mal geschworen, mit der Trinkerei aufzuhören, und ich hab ihr jedes Mal geschworen, nicht mehr wegzulaufen. Aber keine von uns hat sich je daran gehalten. Irgendwann haben wir das mit den falschen Versprechungen aufgegeben. Aber da war ihr sowieso schon alles egal. Sie hat sich keinen Deut mehr um mich und meinen Bruder gekümmert.«
»Schlimm, ey.«
»Ja. Wenn ich dran denke, wie ich mich in der Schule für sie geschämt habe â¦Â«
Kelly fuhr sich mit einer hastigen Bewegung über beide Augenwinkel. Dann goss sie Svenni ein weiteres Glas Apfelschorle ein.
»Danke.« Svenni starrte wie hypnotisiert auf Kellys Hände: lange, perfekt manikürte Fingernägel, jeweils drei schwarz lackiert und zwei rot.
»Erzähl weiter!« Mittlerweile gab es kaum noch etwas an seinem Gegenüber, das Svenni nicht faszinierte.
»Als ich vierzehn wurde, hab ich dann Willi kennengelernt«, fuhr Kelly fort. »Erste groÃe Liebe, verstehst du? Zehn Jahre älter als ich und Jongleur beim Zirkus. Ich hab mich in seinem Wohnwagen versteckt und dachte, er nimmt mich mit. Ich dachte, ich kann bei ihm bleiben. Ich hab ihm vertraut.« Sie gab einen erstickten kleinen Schluchzer von sich.
»Aber�«
»Er hat mich zurückgeschickt. Ich sollte ins Heim, verstehst du? Da bin ich lieber endgültig abgetaucht. Und dann war ich ganz schnell auf Drogen. Voll auf Heroin und so. Ich wär beinah draufgegangen. Wenn mein Bruder nicht gewesen wäreâ¦Â«
Svenni schluckte.
»Der, der jetzt hier bei mir im Haus�«, stotterte er.
»Genau
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