Schattenherz
Nachwuchs dort, also haben wir sie alle getötet und ihre Eier zerstört.«
»Wie viele sind gestorben?« fragte Myrrima benommen.
Borenson antwortete nicht sofort. »Einundvierzig Ritter«, sagte er schließlich. »Sie haben sich tapfer geschlagen. Es war ein erbitterter Kampf.« So bescheiden wie möglich setzte er hinzu: »Die Greiferin habe ich getötet.«
Sie wirbelte zornentbrannt zu ihm herum. »Wie konntest du das tun?«
Verlegen hüstelnd meinte er: »Einfach war es nicht, das gebe ich zu. Die Magierin hat es mir nicht gerade leichtgemacht. Sie schien nur äußerst ungern ihren Kopf verlieren zu wollen.«
Plötzlich sah sie es in aller Deutlichkeit vor sich: wieso sie jeden Morgen von Schwermut überwältigt aufwachte, wieso sie nachts kaum schlafen konnte. Sie hatte Angst. Ganz entsetzliche Angst sogar. Da hatte sie einen Mann wegen seines Reichtums heiraten wollen, und statt dessen hatte sie sich verliebt. Und mittlerweile schien dieser Mann mehr daran interessiert zu sein, sich umbringen zu lassen, als Zärtlichkeiten mit ihr auszutauschen.
Sie drehte sich um und stapfte, Umstehende zur Seite stoßend, durch die Menschenmenge davon, bahnte sich, von Tränen geblendet, einen Weg zum Burgtor.
Borenson eilte ihr hinterher, holte sie am Ende der Zugbrücke ein und drehte sie mit einer seiner groben Hände herum. »Worüber bist du so erzürnt?«
Seine Stimme klang so laut, daß sie einen Fisch unten im Schilf des Burggrabens aufschreckte. Das Wasser kräuselte sich, als das große Etwas sich schwimmend entfernte. Ganze Scharen von Menschen mußten auf dem Weg in die Burg einen Bogen um Borenson und Myrrima machen, als wären sie Inseln in einem Strom.
Dann hob sie den Kopf und sah ihm ins Gesicht. »Ich bin wütend, weil du mich verläßt.«
»Sicher verlasse ich dich in ein paar Tagen«, gab er zurück.
»Aber doch nicht aus freien Stücken.«
Borenson hatte König Sylvarresta getötet, und Myrrima wußte, wie sehr ihn diese Tat mit Scham erfüllte – obwohl Sylvarresta Raj Ahten eine Gabe abgetreten und dem Wolflord damit Geisteskraft verliehen hatte. Sylvarresta war zwar ein guter Mann gewesen, der seine Gabe nur unter Zwang abgetreten hatte, doch in einem entsetzlichen Krieg wie diesem galt der Grundsatz, daß kein Freund den anderen verschonen durfte. Und kein Bruder den anderen.
Indem er Raj Ahten eine Gabe der Geisteskraft überließ, hatte König Sylvarresta sich zum Feind eines jeden gerechten Mannes gemacht, und Borenson hatte sich verpflichtet gefühlt, seinem alten Freund das Leben zu nehmen.
Nach vollbrachter Tat hatte ihn des Königs Tochter, Iome, nur äußerst ungern bestrafen wollen, doch vergeben konnte sie ihm genausowenig. Also hatte sie Borenson im Namen der Gerechtigkeit eine Suche auferlegt, ihm befohlen, einen Akt der Reue zu leisten und in die Länder jenseits von Inkarra zu reisen, um den legendären Dylan Hammer zu finden, die Summe Aller Menschen, und ihn hier nach Heredon zu bringen, damit er sie im Kampf gegen Raj Ahten unterstützte.
Die Suche schien vergeblich. Gerüchten zufolge lebte er zwar noch, aber eigentlich war es ausgeschlossen, daß Dylan Hammer nach sechzehn Jahrhunderten noch existierte. Sir Borenson weigerte sich, solange er bessere Möglichkeiten sah, sein Volk zu beschützen. Dennoch war er bei seiner Ehre verpflichtet, aufzubrechen, und dies mußte er bald tun.
»Ich will nicht gehen«, erklärte Borenson. »Ich muß.«
»Bis nach Inkarra ist es weit. Ein langer Weg für einen Mann, der allein reist. Ich könnte dich begleiten.«
»Nein!« Borenson entschuldigte sich. »Das würdest du nicht überleben.«
»Wie kommst du darauf, daß du überlebst?« fragte Myrrima, obwohl sie die Antwort kannte. Er war Kommandant in der Garde des Königs, besaß Gaben der Muskelkraft, des Durchhaltevermögens und des Stoffwechsels. Wenn irgendein Mann es schaffte, das feindliche Gebiet zu durchqueren, dann Borenson. Inkarra war gefährlich: ein seltsames Land, in dem Nordländer nicht geduldet wurden. Weder er noch Myrrima könnten ohne weiteres hindurchreisen: die Inkarraner hatten alle elfenbeinblasse Haut, dazu glattes silberfarbenes Haar. Borenson und Myrrima könnten ihre Herkunft nicht verbergen.
Und falls Borenson gefaßt wurde, würde man ihn zwingen, in der Arena zu kämpfen. Wenn er überleben wollte, würde er heimlich und ausschließlich nachts reisen und jeden Kontakt mit den Inkarranern vermeiden müssen.
»Ich kann dich unmöglich mitnehmen.
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