Schattenherz
Du würdest mich aufhalten, was unser beider Tod bedeuten würde.«
»Es gefällt mir nicht«, erwiderte Myrrima. »Die Vorstellung, daß du alleine losziehst, gefällt mir nicht.« Ein Händler, der einen Handkarren zog, kam auf sie zu, und Myrrima wich ihm aus, wobei sie Borenson mit sich zog.
»Mir auch nicht, aber du kannst unmöglich auch nur einen Augenblick glauben, du könntest mir von Nutzen sein.«
Sie schüttelte den Kopf, und eine Träne rann ihre Wange hinunter. »Ich habe dir von meinem Vater erzählt«, erwiderte sie. Er war Kaufmann gewesen, ein recht wohlhabender, den man offenbar ausgeraubt und umgebracht und anschließend, um das Verbrechen zu decken, mitsamt seinem Laden verbrannt hatte. »Manchmal frage ich mich, ob ich ihn hätte retten können. In der Nacht, in der er getötet wurde, war er weder der reichste Mann in Bannisferre noch der schwächste.
Er war lediglich allein. Vielleicht, wenn ich bei ihm gewesen wäre…«
»Wärst du bei ihm gewesen, wärst du wahrscheinlich ebenso tot wie er«, fiel Borenson ihr ins Wort.
»Vielleicht«, flüsterte sie. »Aber manchmal glaube ich, ich wäre lieber tot, als daß ich mit dem Gedanken weiterleben muß, ich hätte etwas ändern können.«
Borenson blickte ihr fest in die Augen. »Ich bewundere deine Treue und weiß sie sehr zu schätzen. Doch als ich letzte Woche erfuhr, du seist nach Longmot geritten, in der Absicht, mir in der Schlacht beizustehen, war dies der schwerste Tag in meinem Leben. Ich möchte, daß du an meiner Seite schläfst.
Aber an meiner Seite kämpfen sollst du nicht, auch wenn in dir das Herz einer Kriegerin schlägt.« Er gab ihr zärtlich einen Kuß.
Für einen winzigen Augenblick begegneten sich ihre Blicke.
Sie hielt seine ausgestreckte Hand. Ein Vorwand. »Wenn ich dich nicht begleiten kann«, sagte sie, »dann will ich erst wieder glücklich sein, wenn du zurück bist.«
Borenson lächelte, legte seine Stirn an ihren Kopf und gab ihr einen Kuß auf die Nase. »Dann laß uns etwas abmachen.
Keiner von uns wird glücklich sein, bis ich zurück bin.«
Er nahm sie eine volle Minute in die Arme und ließ die Menge der Bauern, die auf die Burg zuhielten, einfach vorüberziehen.
Hinter sich hörte sie, wie eine Gruppe Männer sich
unterhielt. »Er hat diese Hure Bonny Cleads Erwählt, jawohl, gerade mal vor einer halben Stunde! Warum sollte der Erdkönig ausgerechnet jemanden wie sie Erwählen!«
»Er sagt, er Erwählt die, die ihre Nächsten lieben«, meinte einer, »und ich kenne wirklich keine, die mehr davon geliebt hätte als sie.«
Myrrima spürte, wie Borensons Körper sich in ihren Armen spannte und er sein Augenmerk auf die Bauern richtete. Zwar schien er wütend über diese Kritik am König zu sein, stellte die Bauern aber nicht zur Rede.
Sie hörte einen Aufschrei und ein Klatschen, als hätte jemand etwas in den Burggraben geworfen. Jedoch achtete sie nicht weiter darauf, bis Borenson seinen Kopf von ihr löste und sich umdrehte.
Nun sah sie nach, was seine Aufmerksamkeit erregt hatte.
Vier Halbwüchsige standen auf dem Deich und schauten ungefähr einhundert Meter flußaufwärts in den Burggraben.
Sie standen auf einer kleinen Erhebung unter einer mächtigen Weide.
Die Sonne strahlte in einem wolkenlosen Himmel.
Morgennebel stieg von den dunklen Fluten auf. Ein riesiger Fisch kam an die Oberfläche des Burggrabens und zog träge seine Kreise. Einer der Jungen schleuderte einen Speer nach ihm, doch der Fisch schoß behend nach vorn und tauchte unter.
»He!« rief Borenson und legte Wut in seine Stimme. »Was treibt ihr Burschen da?«
Einer der Burschen, ein schmächtiger Junge mit strohigem Haar und spitzem Gesicht, antwortete: »Wir fangen einen Stör fürs Hostenfest. Heute morgen sind ein paar ganz große im Graben herumgeschwommen.«
Noch während er sprach, schwamm ein gewaltiger Fisch von sechs oder acht Fuß Länge an die Oberfläche und begann mit den Flossen schlagend in seltsamen Mustern zu kreisen. Er übersah ein Entenküken, das neugierig im nahen Schilf herumstöberte, und schien auch nicht auf Fliegenjagd zu sein.
Ein Bursche machte seinen Speer bereit.
»Halt – im Namen des Königs!« befahl Borenson, und
Myrrima mußte lächeln, als sie ihn den Namen des Königs mit solcher Selbstverständlichkeit in Besitz nehmen hörte. Der Junge mit dem Speer in der Hand sah Borenson an, als sei dieser ganz offenkundig irre. »Aber«, protestierte der Junge, »ein so großer Fisch
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