Schatteninsel
der Täter war, und haben ihn unter Hausarrest gestellt. Seine eigenen Eltern haben sich verpflichtet, ihn zu bewachen. Der Mann soll für den Rest seiner Tage das Haus nur noch verlassen haben, um aufs Plumpsklo oder sonntags in die Kirche zu gehen. Aus dem Gefängnis wird man immerhin irgendwann entlassen.«
»Du müsstest nicht hierbleiben«, sagte Jenni unvermittelt, denn sie ertrug den Gedanken nicht, dass Ina dieses Leben gewählt hatte. Das erschien ihr aus irgendeinem Grund wie eine gegen sie persönlich gerichtete Kränkung. Als gäbe es keinen Ausweg, wo doch alles von einem selbst abhing. Sie betrachtete Inas Spiegelbild im Fenster. Es war von barmherziger Unschärfe, zwei verschwommene, identische Bilder, getrennt voneinander.
»Du brauchst nichts wiedergutzumachen«, fügte sie hinzu. »Nicht an unserer Stelle. An niemandes Stelle.«
Inas Schultern zuckten, als hätte sie aufgelacht, doch es war kein Laut zu hören.
»Das Leben ist manchmal grausam«, fuhr Jenni fort. »Wenn man der Stimme seines Herzens folgt, muss manchmal ein anderer leiden. Das lässt sich nicht ändern. Du musst dein eigenes Leben führen, Ina. Das ist dein gutes Recht.«
Sie ging zu ihrer Schwester, legte ihr behutsam einen Arm um die Schulter, lehnte sich an sie. Jenni hatte diese Worte tausendmal einstudiert, hatte sich überlegt, dass es sinnlos war, auf die Einzelheiten einzugehen, an denen man nur hängen blieb wie in einem Fangeisen. Aber jetzt klang alles, was sie sagte, leer, es erreichte niemanden in diesem entsetzlichen Haus, dessen Wände die Stimmen aufsaugten und überall ihre vorwurfsvolle Stille verströmten. Zum Glück stieß Ina sie nicht zurück.
»Mein Herz hat mich hergeführt«, sagte Ina.
Jenni hätte ihr gern widersprochen, doch sie hatte nicht die Kraft dazu. Sie dachte an all die Gespräche mit verständnisvollen Freunden. An die Beratungen bei einem Glas Wein, in deren Verlauf klar wurde, dass jeder das Recht auf ein eigenes Leben hat. An die ermutigendenWeisheiten, die ihr das Gefühl vermittelt hatten, auf dem richtigen Weg zu sein. Man brauchte nicht zu bleiben, wenn einem das Leben nur noch als Pflichterfüllung erschien. Leiden war keine Tugend. Die Vergangenheit brauchte man nicht mit sich herumzutragen. Ein Leben, weiter nichts.
Dennoch dachte Jenni an Markus, der im Krankenhaus erwacht war und nur ein einziges vertrautes Gesicht gesehen hatte. Nur Ina war da gewesen. Nicht Jenni. Nicht Aaron. Nicht einmal Lisa. Nur Ina.
Jenni erinnerte sich an die verweinte Stimme am Telefon, an jenem Abend. Markus liegt im Krankenhaus , hatte Ina gestammelt. Rate mal, was er gesagt hat, als er mich sah . Jenni hatte weder geraten noch gefragt. Sie war nur glücklich gewesen, weil sie nicht selbst dort sein musste, unter den surrenden Leuchtröhren, wo zerquetschte Leben zusammengeflickt wurden, obwohl es besser gewesen wäre, die Unglücklichen dahinscheiden zu lassen. Sie hatte sich die verworrene Erklärung angehört; von einem Elch, der sich hinter den Wildzaun verirrt hatte, war die Rede gewesen, und von Markus’ kritischem Zustand. Von dem Verhälnis zwischen Jenni und Aaron hatte Ina Markus nicht erzählt, obwohl sie schon seit Wochen davon gewusst hatte. Ina war dort gewesen. Die treue kleine Schwester.
Am Telefon hatte Ina jedoch gefragt: Hat Markus davon gewusst? Du musst es mir ehrlich sagen, Jenni. Hat er es vor dem Unfall gewusst? Darauf hatte Jenni nicht antworten können. Sie hatte aufgelegt. Aaron war zu ihr getreten, hatte sie fragend angesehen. Jenni hatte ihm die Lage erklärt und gesagt, sie müssten zum Krankenhaus fahren. Aaron hatte abgelehnt. Er verstand sich darauf, schmerzhafte Entscheidungen mit solcher Bestimmtheitzu treffen, dass auch Jenni sie für unvermeidlich halten konnte.
Jenni blickte nach draußen, wo Aaron Koffer aus dem Wagen hob. Er hätte irgendein anderer Mann sein können. Einer, der Miro nicht schlug. Diese Möglichkeit riss sie für einen Moment in einen Strudel.
»Aaron ist schwer in Fahrt«, sagte Ina, vielleicht um Jenni aus der Klemme zu helfen.
Jenni gab keine Antwort. Sie seufzte nur zum Zeichen, dass sie die Worte gehört hatte.
»Ich habe ihn neulich in den Nachrichten gesehen. Man sollte es nicht glauben, bei einem so mürrischen Mann. Eines Tages wird er sicher noch Ministerpräsident. Warum nicht, wenn nichts anderes zählt.«
Jenni ließ sich nicht provozieren.
Unten schlug Aaron gerade den Kofferraumdeckel zu und nahm die Koffer auf. Die
Weitere Kostenlose Bücher