Schatteninsel
zum Arbeitszimmer vorbeikam, sah sie Licht durch eine Ritze dringen. Sie hätte gern ausprobiert, ob die Tür tatsächlich verriegelt war, und streckte schon die Hand aus, doch da wurde ihr klar, dass es unschicklich wäre.
»Und hier ist euer Zimmer«, sagte Ina. »Das Bad ist da am Ende des Flurs. Es ist nur für euch. Verriegeln kann man es nicht. Ich habe das Schloss abmontiert, damit Markus sich nicht einsperrt.«
Jenni blieb mit Miro an der Tür zum Gästezimmer stehen.
»Wunderschön«, sagte sie und meinte es ernst. Insgeheim hatte sie wohl gefürchtet, dass Ina sie zur Strafe in einem fensterlosen Verschlag unterbringen würde. Das Zimmer war fürstlich groß. Durch das Fenster blickte man auf den Vorplatz vor dem Haus und weit hinaus aufs Meer. In der Ferne war eine felsige Landspitze mit dunklen Erhebungen zu sehen. Jenni betrachtete sie verwundert und wiederholte:
»Wunderbar. Wirklich toll.«
»Ich hole die Sachen aus dem Wagen«, brummte Aaron hinter ihr.
»Vergiss die grüne Tasche nicht«, bat Jenni, ohne den Blick von der Aussicht abzuwenden.
Sie spürte, wie sich Miros Griff um ihre Hand lockerte.
»Du kannst ruhig deinen Rucksack aus dem Auto holen, wenn du magst«, sagte sie zerstreut. Miro drehte sich um und schlurfte davon.
Jenni folgte Ina in das Zimmer. Dort war es kühler als im Erdgeschoss und auf dem Flur. Die Größe und Kargheit der Landschaft, die sich hinter dem hohen Fenster eröffnete, stimmten sie plötzlich melancholisch.
»Wir schlafen manchmal auch selbst hier«, sagte Ina. »Mitunter starrt Markus hier stundenlang zum Fenster hinaus. Es ist ja auch eine schöne Aussicht.«
Wir schlafen . Die Worte hallten in Jennis Ohren, und einen Moment lang hörte sie nichts anderes.
Ina stand mit verschränkten Armen am Fenster. Vielleicht versuchte sie, zu verstehen, was Markus an dieser Landschaft so anzog. Jenni fand den Anblick bedrückend einsam. Hinter der Landspitze war das offene Meer zu sehen. Als gäbe es nichts anderes auf der Welt, als wäre das hier alles. Keine neuen Ufer. Nur der Rand der Welt.
»Hast du mit Vater gesprochen?«, fragte Jenni.
»Ab und zu. Am Telefon.«
»Trinkt er noch?«
»Ja. Er wird es nicht mehr lange überleben.«
»Hast du versucht, ihn dazu zu bringen, dass er aufhört?«
»Ob ich es versucht habe?«
Obwohl Inas Stimme ruhig blieb, versetzten ihre Worte Jenni einen Stich, der sie aus der Starre weckte, in die sie die monotone Landschaft versetzt hatte. Sie durfte nicht vergessen, wie viel Ina selbstlos auf sich genommen hatte. Wie gering Jennis Recht war, Fragen zu stellen, Forderungen.
»Markus soll an einer großen Untersuchung gearbeitet haben, als es passierte«, sagte Ina in bedauerndem Ton, nachdem Jenni gezeigt hatte, dass sie die Zurechtweisung annahm. »Lisa hat mir davon erzählt. Es hatte etwas mit dieser Insel …«
»Ich weiß«, fiel Jenni ihr ins Wort. Ja, sie wusste es. Irgendwelche Geschichten von Gestrandeten, von Inzucht treibenden Sekten auf der Insel. Sie hatte sich schon damals nicht dafür interessiert.
»Er soll sogar den schwedischen Inseldialekt richtig gut gelernt haben«, fuhr Ina hartnäckig fort. »Die Hiesigen kommen immer noch ab und zu vorbei und bringen Sanddorn und Fische. Sie erkundigen sich, wie es Markus geht.«
»Sie sehen alle so traurig aus«, sagte Jenni.
»Wer?«
»Die Inselbewohner. Jeder, den ich unterwegs gesehen habe.«
Ina schwieg eine Weile.
»Die sind eine ganz eigene Art«, sagte sie dann. »Gelegentlich soll es immer noch Kinder geben, die nirgends registriert sind.«
»Traurig.«
»Sie leben nach ihren eigenen Gesetzen. Kann sein, dass sie viel glücklicher sind als die Menschen auf dem Festland. Weil es keine Polizisten und Behörden gibt, kümmern sie sich wirklich umeinander.«
»Entsetzlich«, sagte Jenni mit Bestimmtheit. »Was kann ein Mensch hier von seinem Leben haben? Wovon kann man hier träumen?«
Ihr war klar, dass sie mit diesen Worten auch Ina schmähte, doch es war ihr egal. Ina schien es nicht übelzunehmen. Jenni dachte an verschlossene Menschen, die in engen, von ihren Vorvätern erbauten Häusern wohnten. An den Wänden spähten Satellitenschüsseln zum Himmel. Einsame Menschen, die die wirkliche Welt nur durch Vermittlung von Bildschirmen und Monitoren sahen.
»In den Sechzigerjahren soll es hier eine Vergewaltigung gegeben haben, und alle wussten, dass die Polizei nicht genügend Beweise finden würde«, sagte Ina. »Die Leute im Dorf wussten, wer
Weitere Kostenlose Bücher