Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schatteninsel

Schatteninsel

Titel: Schatteninsel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marko Hautala
Vom Netzwerk:
der Schädel endlich auf den Boden. Er knackte wie ein kaputter Tischtennisball und rollte auf die Seite. Miro betrachtete seinen Finger und fluchte. Es kam kein Blut, aber vom Fingergelenk bis zur Nagelhaut zog sich ein roter brennender Kratzer.
    Miro schrie und hob den Fuß, wollte den blöden Scheißschädel zertreten. Da merkte er, dass jemand an der Tür stand. Zuerst fürchtete er, es sei sein Vater. Der würde ihn am Kopf packen und mit der Sonderschule drohen und brüllen, wenn du, mein Junge, was werden willst, dann musst du, Junge, was dafür tun und dich konzentrieren, Junge, konzentrieren, konzentrieren .
    Aber es war nicht sein Vater. Eine Frau stand an der Tür und starrte ihn an, es war die alte Hexe. Miro ließ den Fuß sinken und erklärte, dass der verdammte beschissene Schädel biss und rauschte.
    Die Frau betrat das Zimmer. Ging in die Hocke. Hob einen kleinen Knochensplitter auf.
    Miro fluchte und rannte zur Tür.
    Er spürte den Griff um seinen Knöchel, konnte aber nicht mehr anhalten oder das Tempo verringern. Er fiel vornüber und schaffte es gerade noch, sich mit den Händenabzustützen, damit er nicht wieder Nasenbluten bekam. Die Frau drehte ihn um und drückte seine Schultern so fest auf den Boden, dass es wehtat. Rund um ihre Augen war schwarze und blaue Farbe, sie hatte sich tief in den Falten abgesetzt, aus der Nähe sah man es genau. Ein furchtbares, furchtbares Weib.
    »Armes Kind«, sagte die Frau.
    Sie fuhr mit einer Hand in Miros Haare und wickelte sich eine Strähne um den Finger. Ihr Mund näherte sich seinem Ohr, sie begann zu flüstern, und Miro wusste, so hätte sich der Schädel angehört, wenn er sich getraut hätte, ihn ganz fest ans Ohr zu pressen.

D ie ersten zwei Gräber wurden geduldig ausgehoben.
    Die Gebete wurden sorgsam gesprochen. Jakob sah sogar Tränen auf den Gesichtern der Männer, die ihre Gefährten beerdigten.
    Doch die späteren Gräber fielen flacher aus. Die Gebete kürzer. Aus dem Weinen wurde hungriges Jammern.
    Eines Tages folgte auf Regen Schneeregen, dann nieselte es, danach prasselte erneut ein gewaltiger Schauer herunter, der alles durchnässte, bis sich nicht einmal mehr Baumrinde anzünden ließ. Jakob beobachtete einen der Seemänner, der die Feuersteine träge gegeneinanderschlug, sich schließlich die Rinde in den Mund steckte und mit geschlossenen Augen brummte, als hätte er ein Stück kross gebratene Schweinshaut auf der Zunge.
    Anfangs waren sie neun gewesen, jetzt nur noch fünf.
    Jakobs rechtes Auge eiterte. Die Sehkraft hatte es bereits auf dem Schiff verloren. Nun bildete sich ein seltsamer Druck in der Augenhöhle, von dem sich Jakob schließlich befreite, indem er sich das widerwärtige Organ ausriss. Der Eingriff bereitete ihm keine Schmerzen, eher im Gegenteil. Das Druckgefühl ließ nach. Doch der Geruch war so ekelerregend, dass der magere junge Bursche, der Jakob bewachte, ihn in die unterste Hölle verdammte und ein Stück von ihm abrückte.
    Jakob konnte nicht umhin, sich für sein totes Auge, das auf einem feuchten Felsen lag, zu interessieren. Dieser bescheidene schleimige Klumpen, klein wie ein Vogelfötus aus einem zerbrochenen Ei, war fast dreißig Jahre lang sein schmales Fenster zur sündhaften Welt gewesen. Es hatte Farben, Licht, Freude und Dunkelheit gesehen. Hatte es all das in sich gespeichert? Die Schauspielertruppe, die in sein Heimatdorf gekommen war, als er erst fünf Sommer erlebt hatte. Die wunderlichen wechselnden Prospekte, auf die ein Königshof, eine Wüste in fernen Ländern und wundervolle Gärten gezaubert worden waren. Durch diese zerfetzte Haut hatten sie sich in sein Gedächtnis eingegraben.
    Jakob erinnerte sich an Katharina, die einmal, vor langer Zeit, im Ehebett zu ihm gesagt hatte: Diese Augen leuchten, als hätte Gott zwei seiner Sterne in ihnen versenkt. Jakob hatte seiner Frau befohlen, ihre Zunge zu hüten. Doch als sie eingeschlafen war, hatte er in dem dunklen Zimmer vor sich hin geschaut, die Atemzüge seiner Kinder gehört und sich an die Theatertruppe von damals erinnert und daran, wie jene mit Farben und Umrissen gezauberten Landschaften so echt gewirkt hatten, dass man glaubte, in sie hineingehen zu können. Und später hatten dieselben Augen die Gesichter Katharinas und der Kinder betrachtet, die Blockwände seines Hauses, die Dunkelheit des Zimmers.
    Die Zeit verstrich, und die Augen sammelten alles, was sie sahen, nur um dem Menschen vergangene Landschaften und Gesichter

Weitere Kostenlose Bücher