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Schatteninsel

Schatteninsel

Titel: Schatteninsel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marko Hautala
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vorzugaukeln, ihn in eine seltsame, grundlose Sehnsucht zu stürzen. Musste der Mensch sich beide Augen ausreißen, damit ihn die giftigen Trugbilder der Vergangenheit in Frieden ließen? Oder würden dieBilder einem Blinden, dem nur die Dunkelheit seiner eigenen Seele blieb, umso intensiver erscheinen?
    Jakob brachte es nicht länger über sich, das zerfetzte Auge auf dem Felsen zu betrachten. Er holte einen kleinen Spiegel aus seinem Stoffbeutel und hielt ihn sich vor das Gesicht. In dem unebenen Glas, vor dem strömenden Regen, sah ihn ein Mann an, dessen Gesichtszüge verschwammen. Ein Mann, der einmal geglaubt hatte, das Glück sei in dieser Welt beheimatet.
    Jakob betastete seine leere Augenhöhle und betete wispernd. Das Einzige, was ihn tröstete, war der Glaube, dass er vielleicht in der Freude des Himmels erwachen würde, wo man Wunder nicht auf zerschlissene Tücher zu malen brauchte.

J enni hörte Miros Schrei, als sie vor dem Haus stand und gerade im Begriff war, ans Ufer zu laufen, die glatte Felsfläche hinab, den Kopf gefüllt mit Schreckensbildern, auf denen der Junge reglos im Wasser trieb.
    »Drinnen«, sagte Ina. Sie war Jenni gefolgt, verwirrt von der übermäßigen Besorgnis ihrer Schwester. Ihre Stimme klang beruhigend, doch Jenni rannte aufgeregt ins Haus zurück und rief nach Miro.
    Keine Antwort.
    Sie lief rasch durch die Räume im Erdgeschoss.
    Auf dem Fußboden in einem der Zimmer lag ein geöffneter weißer Koffer. Jetzt erst erkannte Jenni, dass es derselbe war, den Lisa damals, vor langer Zeit, nach Santorini mitgenommen hatte. Wie passend, doch sie hatte jetzt keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Das Einzige, woran sie dachte, war die Tatsache, dass Lisa sich nicht blicken ließ. Dass sie irgendwo mit Miro allein war.
    »Miro!«, rief Jenni und lief die Treppe hinauf. Beide Türen am Treppenabsatz standen jetzt auf, auch die, die angeblich abgeschlossen war.
    »Der Junge ist hier«, sagte eine Stimme.
    Lisas Stimme. Die Wut flammte auf, fuhr Jenni ins Rückgrat und in die Glieder. Sie war mit einem Satz an der Tür. Auf der Schwelle machte sie Halt.
    »Alles in Ordnung«, sagte Lisa.
    Sie kniete auf dem Fußboden, ihre Hand lag auf Miros Kopf. Miro machte ein seltsames Gesicht. Jenni sah sofort, dass er nicht wusste, wie er auf etwas, das gerade geschehen war, reagieren sollte. Auf dem Fußboden lag ein Totenkopf aus Plastik. Jenni betrachtete Miro, Lisa und den Schädel wie ein absurdes Bilderrätsel, verfluchte ihre Beine, die sich nicht bewegen wollten. Sie hätte Miro sofort aus Lisas Reichweite bringen müssen.
    »Was ist passiert?«, fragte Jenni. Sie sah Miro an, doch die Antwort kam von Lisa.
    »Nur eine kleine Panne. Halb so schlimm. Nicht wahr, Junge?«
    Junge. Vielleicht kannte Lisa nicht einmal Miros Namen. Bei ihrer Ankunft hatte sie keinen Blick für ihn übrig gehabt. Natürlich wusste Lisa, dass Jenni und Aaron ein Kind hatten, aber es war kaum vorstellbar, dass sie sich herabgelassen hätte, Ina nach seinem Namen zu fragen.
    Jenni zwang sich aus ihrer Erstarrung und nahm Miro in die Arme. Lisas Hand hob sich langsam von seinem Kopf, gerade rechtzeitig, sodass sie nicht beide gleichzeitig das Kind berührten. Miro war bereits zu schwer, um ihn auf dem Arm zu tragen, doch jetzt fühlte er sich so leicht an wie mit einem Monat.
    »Markus’ Sachen«, sagte Lisa und deutete mit dem Kopf auf den Schädel.
    »Oh nein«, sagte Ina irgendwo hinter Jenni.
    Einen Augenblick lang dachte Jenni, Ina teile ihre Sorge um Miro, aber nein. Inas besorgter Blick richtete sich auf den Fußboden. Für Miro interessierte sich niemand. Die Frauen in diesem Haus sorgten sich um einen Plastikschädel. Die Wut flammte erneut auf.
    »Was zum Teufel macht das schon?«, schrie Jenni. »Schließt die Türen ab, wenn … Man merkt wirklich, dass es in diesem Haus keine Kinder gibt!«
    Sie rannte, Miro auf dem Arm, an Ina vorbei. Aaron, der ihr auf der Treppe begegnete, sah sie fragend an, doch Jenni sagte nichts. Sie drückte Miros Kopf an die Schulter und rannte, wollte weg aus diesem Haus, in dem niemand Mitgefühl zeigte.
    Draußen lief sie im Kreis, bis ihr der Junge zu schwer wurde. Sie setzte ihn ab und sah ihm in die Augen.
    »Was ist passiert?«
    Miro schluckte und sagte:
    »Eine kleine Panne.«
    Er hatte die Augen weit aufgerissen.
    »Keine Angst«, tröstete Jenni. »So etwas kann passieren. Keine Angst.«
    Miro rieb sich das Ohrläppchen, das schon ganz rot war. Jenni nahm seine

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